Logbuch Teil 3: Der Sprung ins Eiswasser

Die Le Commandant Charcot ist das einzige Kreuzfahrtschiff, das an Grönlands Küste fahren kann, solange dort fest der vorherrschende Aggregatzustand von Wasser ist – eine unglaubliche Reise an Orte, die lange unerreichbar schienen. Und ein Logbuch, brühwarm, Verzeihung, eiskalt serviert, direkt aus der Arktis.
 
Text Tim Gutke

Freitag, 16. Juni, Tag 9

1560 Flaschen Champagner hat die Le Commandant Charcot an Bord, verrät der Barkeeper.

Mit dem Gedanken an den gestrigen Champagner wache ich auf. Nicht weil ich gerne noch ein Glas hätte, sondern weil ich gestern noch mit dem Barkeeper sprach. 1560 Flaschen Champagner hat die Le Commandant Charcot bei ihrer Abfahrt in Reykjavík an Bord gehabt. Magnumflaschen, versteht sich. Also 1,5 Liter mal 1560 Flaschen ergibt 2340 Liter. Kurzum, jeder Gast könnte auf dieser 14-tägigen Reise jeden Tag 1,2 Liter Champagner trinken. Fantastisch. Und ich könnte heute dazu neigen, denn alle geplanten Aktivitäten werden aufgrund von Nebel abgesagt. Man hat das Gefühl, man kann ihn fast greifen, wie ein Bettlaken, so dicht hängt er vor der Scheibe. Der Kapitän trifft die Entscheidung, mit dem Schiff weiter Richtung Norden zu fahren. Auf der Suche nach besserem Wetter. Ich suche etwas anderes: Antworten. Mit wem bin ich hier eigentlich zu diesem Abenteuer aufgebrochen? Ich spaziere durch die Observation Lounge, die Zigarrenlounge und das Fotostudio und schaue mir meine Mitreisenden und die Crew genau an. Unter den Gästen sind interessante Persönlichkeiten. Alt. Älter als ich zumindest. Ich bin 45, das Durchschnittsalter hier liegt jenseits der 65 Jahre. Sie alle haben ihr Geld verdient, meist durch Firmenbesitz, in leitender Funktion oder als Erbe, wie ich erfahre. Aber: Sie behandeln mich wie ihresgleichen, die Suche nach Polarbären, Robben und Walen schmiedet zusammen. Das Team hingegen ist jung und hochprofessionell. Muss es auch sein, denn hier im Eis sind wir auf uns allein gestellt, sollte etwas Unvorhergesehenes passieren, ist der nächste Eisbrecher weit weg. Ich verabrede mich mit Sara aus Connecticut auf eine Partie Schach in der Observation Lounge und beginne, meine 1,2 Liter Champagner für diesen Tag mit dem ersten Glas.

Samstag, 17. Juni, Tag 10

Im Bademantel stellt sich ein warmes Hugh-Hefner-Gefühl ein.

Immer noch Nebel. Ein Klopfen an der Tür holt mich aus meinem Tagtraum. Der Steward steht mit einem Umschlag vor meiner Tür. „For you, Mr. Gutke“, sagt er und schleicht lautlos von dannen. Ich öffne den weißen Umschlag, auf dem nur mein Name und meine Kabinennummer geschrieben stehen: „Gutke, 745“. Ich ziehe einen weißen Zettel heraus und lese folgende Zeilen halblaut: „Lieber Herr Gutke, Mrs. Robin lädt sie heute zu einer Cocktailparty um 18 Uhr in ihre Suite ein.“ Noch mit dem Zettel in der Hand blicke ich aus dem Fenster. Was für eine schöne Idee, denke ich. Obwohl auf der Le Commandant Charcot die alkoholischen Getränke inkludiert sind, fühlt es sich sehr exklusiv an, auf eine private Party eingeladen zu sein. 18 Uhr? Mrs. Robin, ich freue mich. Ich entschließe mich kurzerhand, alle Vorträge heute ausfallen zu lassen und die Zeit bis dahin im Bademantel zu verbringen. Ab Mittag stellt sich ein warmes Hugh-Hefner-Gefühl ein. Kurz vor sechs Uhr klopfe ich an die Suite mit der Nummer 642. Die Tür öffnet sich. Eine fantastische Aussicht auf das offene Meer ist das, was sofort auffällt. Die Duplex Suite ist im Heck des Schiffes, mit Blick auf die große französische Flagge, unter der es fährt. Es sind charmante Stunden mit geistreichen Gesprächen, etwas Champagner, etwas Käse und einer unvergleichlichen Aussicht auf die schneebedeckten Berge und das Packeis. Die illustre Gesellschaft stammt aus den unterschiedlichsten Ländern dieser Welt, und so ist das Englisch, das durch den Raum wabert, gefärbt von den unterschiedlichsten Akzenten. Ich lasse mich auf die Couch fallen und genieße diesen Klangteppich. Schön, denke ich, wenn Menschen sich verstehen. 

Sonntag, 18. Juni, Tag 11

Den Polar Plunge, also den Sprung ins minus ein Grad kalte Wasser, darf nur machen, wer vorher ein EKG eingereicht hat.

Die Le Commandant Charcot ist mit uns bereits auf dem Rückweg nach Reykjavík. Und: Das Wetter bessert sich mit jeder Seemeile, die wir weiter in Richtung Süden kommen. Langsam stellt sich die Gewissheit ein, dass der Großteil der Reise bereits hinter uns liegt. Zehn Polarbären haben wir bisher gesehen. Einen Wal und ein paar Delfine. Aber irgendetwas fehlt. Und plötzlich fällt es mir auf: Ich vermisse Bäume. Zum ersten Mal kann ich dieses Gefühl klar formulieren. Ich vermisse Bäume. Das Gerücht macht die Runde, dass heute noch der Polar Plunge stattfinden soll. Nachdem diese Attraktion bereits dreimal wieder abgesagt wurde, macht es die Sache glatt etwas aufregend. Teilnehmen darf auch nur, wer vorher ein aktuelles EKG eingereicht hat. Plötzlich die Durchsage vom Kapitän: „Liebe Gäste, Polar Plunge, heute um 19 Uhr.“ Man kann die Aufregung auf dem Schiff fast mit Händen greifen. Draußen werden Zelte aufgestellt, Teppiche verlegt und eine provisorische Leiter an der Eiskante installiert – alles nur etwa 100 Meter vom Schiff entfernt. Expeditionsleiter Steve Moir legt noch einmal die Kleiderordnung fest: „Badehose oder -anzug, den Bademantel drüber, dicke Socken und Stiefel an und die Polarjacke drüberziehen.“ Gesagt, getan. Auf den letzten Metern bis zur Sprungplattform macht sich ein mulmiges Gefühl breit. Die Schiffsärztin hat empfohlen, langsam über die Treppen in das minus ein Grad kalte Wasser zu gehen. Ich habe mich für einen Sprung entschieden. Auf den Treppenstufen könnte ich es mir sonst noch einmal anders überlegen. In der Luft, so denke ich, würde das dann keinen Unterschied mehr machen. Nur mit einer Badehose bekleidet steh ich an der Wasserkante. Ein Steward hat mir ein Seil um den Bauch gebunden, der Wind ist kalt. „Bereit, wenn Sie bereit sind“, sagt er. Fast alle Gäste des Schiffes haben sich zum Polar Plunge eingefunden. Kneifen ist nicht. „Ach, scheiß drauf“, sage ich und springe ab. Im Übrigen eine Einstellung, die mir in Jugendjahren bereits einige gebrochene Knochen, viele Schürfwunden und Narben eingebracht hat. Dieses Mal nur einen ordentlichen Kälteschock. Als mein ganzer Körper in das Wasser eintaucht, habe ich das Gefühl, mir wird schwarz vor Augen. Ich versuche dennoch, einige Sekunden unter Wasser zu bleiben, um den Moment bewusst wahrzunehmen. Aber der Körper und der Geist wollen raus. Nach wenigen Sekunden stehe ich wieder auf dem Eis. Dieses Mal tropfend. Die kalten Haare schmerzen am Kopf. Ein Steward reicht mir ein Handtuch und einen Becher mit einem heißen, dickflüssigen Getränk. „Heißer Kakao mit Baileys. Bringt sofort Energie zurück“, sagt er und lächelt. Ich nehme einen kräftigen Schluck, ein Zaubertrank, wahrhaftig. 37 weitere Gäste wagen den Sprung ins eiskalte Wasser. Ich schaffe es noch in die Sauna und bin um acht Uhr im Bett. Der Zimmerservice bringt einen Caesar Salad und ein Glas Rosé. Die Müdigkeit und der tiefe Schlaf kommen schnell.

Montag, 19. Juni, Tag 12:

Bei der Kajaktour durchs Packeis werden die Gäste von Expeditionsleiter Mattieu geführt. 

2.34 Uhr. Ich werde in der Nacht abrupt durch einen lauten Knall geweckt. Orientierungslosigkeit. Wie ein wildes Tier versucht sich die Sonne gerade links und rechts an den blickdichten Vorhängen in die Kabine zu kämpfen. Nach einigen Sekunden habe ich die Lage erfasst. Wir scheinen eine große Scholle getroffen zu haben, und die Le Commandant Charcot stand einmal kurz schräg. Alle Wasserflaschen hat es in einem Streich vom Tisch abgeräumt. Da das Schiff wieder ruhig läuft, entschließe ich mich, die Sachen morgen aufzuräumen. Keine Sekunde vermittelte sich das Gefühl von Unsicherheit. Ich gleite sofort wieder in den Schlaf. Der Tag beginnt mit einer Kajaktour durch das Packeis. Das gefrorene Wasser schafft bizarre Gebilde. Unser Guide Mattieu Le Du warnt vor der Strömung und den sich bewegenden Eisschollen. „Wer sich um Bären sorgt, dem kann ich nur sagen, dass das Eis und die Strömung viel gefährlicher sein können.“ In unseren roten Kunststoffkajaks folgen wir wie eine Entenfamilie daher eng Mattieu. Keiner will abhandenkommen. Es sind meditative Bewegungsabläufe bei drei Grad Celsius, ich sauge die frische Luft tief in meine Lungen. Mein Kajakpartner Jean-Claude aus Lyon und ich tun uns anfänglich mit der Kommunikation etwas schwer. Die gemeinsame Sprache, die wir finden, ist nicht Englisch, sondern nonverbal. Bei einem Richtungswechsel tippe ich ihn kurz mit meinem Paddel an der jeweiligen Schulter an, und schon weiß er, wohin es gehen soll. Ich erinnere mich an die Worte des Expeditionsleiters Steve. „Hier draußen muss man mit den Karten spielen, die das Schicksal austeilt.“ Recht hat er.

Die Le Commandant Charcot führt neben all den exklusiven Annehmlichkeiten auch ein Labor mit. Das ist ziemlich unscheinbar in den Eingeweiden des Schiffes verbaut, aber für die Forschung von großer Wichtigkeit. Hier werden Daten gesammelt, Mikroplastikkonzentrationen und Temperaturen gemessen und der CO2-Gehalt und der pH-Wert in unterschiedlichen Wassertiefen bestimmt. „Diese Daten bekommt man mit einem Satelliten nicht, da muss ein Schiff hier sein und sie holen. Nun, und wir sind nun mal das einzige Schiff hier“, sagt  Éric Dupont, der wissenschaftliche Leiter der Abteilung. Diese Daten und Proben sind für die Forscher an Land von großer Wichtigkeit und helfen, die Erderwärmung und die daraus resultierenden Folgen besser zu verstehen. Immer wenn die Gäste des Schiffes auf Expeditionen sind, erhebt das Forschungsteam Daten und sammelt Proben. Sieben Millionen Euro hat Ponant sich das Labor und die Geräte kosten lassen. „Und einen Teil dieser Forschung zahlen die Gäste über ihren Ticketpreis mit, auch wenn sie es nicht wissen“, sagt Éric. 

Dienstag, 20. Juni, Tag 13

Weiß soweit das Auge reicht: 14 Tage und 3146,55 Kilometer lang ging die Reise durch die Arktis.

„Polarbär an Steuerbord“, ruft der Kapitän aus den Lautsprechern. „Etwa zwei Kilometer weg.“ Ich bleibe noch etwas im Fitnessraum, lasse mich nicht treiben. Kennst du einen Bären, denke ich, kennst du alle. Plötzlich spüre ich aber eine große Hektik, die um mich herum alle Gäste erfasst hat. Ich kann es gut durch die Scheibe sehen. Aufgeregt rennen orangefarbene Polarjacken von rechts nach links. Vielleicht doch ein guter Moment, vom Laufband zu steigen. „So etwas habe ich noch nie gesehen“, ruft eine Dame hinter mir, eher als Signal, ihr aus dem Weg zu gehen. Sie drängelt sich in dem schmalen Gang zur Observation Lounge an mir vorbei. Ich gehe auf die Aussichtsplattform und blicke nach unten. Weniger als 30 Meter nah ist der Eisbär ans Schiff gekommen. Ich kann ihm direkt in die Augen schauen. Er pendelt mit dem Kopf, schnuppert, versucht, all die unbekannten Gerüche einzuordnen. Freund? Feind? Futter? Am Ende entscheidet er sich wohl für egal, umrundet das Schiff und setzt seinen Weg durch das Eis fort. Ich blicke ihm noch lange hinterher. Kleine Randnotiz: Eisbären sind nicht weiß. Ihre Haare sind transparent und scheinen nur weiß. Und eigentlich sind sie sogar gelb. Von Algen, die sich beim Schwimmen im Fell verfangen. Denn der Bär ist ein ausgezeichneter Schwimmer. Am Ende des Tages steht noch das obligatorische Gruppenfoto an. Alle Gäste versammeln sich auf dem Eis. Die Stimmung ist ausgelassen, ein Bär am Morgen vertreibt wohl Kummer und Sorgen.

Mittwoch, 21. Juni, Tag 14

Seetag. Und damit die letzten 24 Stunden auf der Le Commandant Charcot. Kurz nachdem das Festland außer Sichtweite gerät, verabschiedet uns wie bestellt eine Orca-Familie. Lange tummelt sich die kleine Gruppe an der Backbord-Seite. Kapitän Garcia stoppt die Maschinen und lässt das Schiff im offenen Meer liegen. Man kann die Wale vom Balkon der eigenen Kabine schnauben hören. Ein einzigartiges Schauspiel und ein Beleg dafür, wie lohnend der elektrische Antrieb des Schiffes ist. Eine letzte Wasserfontäne, ein kurzes Schnauben, dann sind die Meeresbewohner endgültig abgetaucht. Leise setzen wir unsere Fahrt fort. Ich verbringe die Zeit damit, ein paar Mails aufzuholen und zwischen Saftbar und Sauna zu pendeln. Gedanklich hat mich die echte Welt schnell zurück. Ich frage mich: Wann schaffe ich es, den Wagen zum TÜV zu bringen, ob der Schneider wohl mit meinem Anzug fertig ist und wie ich die Termine der kommenden Tage geschickt koordiniert bekomme. Ich vermisse zu Hause, irgendwie. Und ich vermisse die Le Commandant Charcot, irgendwie, obwohl ich noch auf dem Schiff bin. Vielleicht vermisse ich auch nur die Idee, am Ende der Welt zu sein und fern von all dem, was das Leben aber auch normal macht. Am Abend blicke ich vom Helideck in Richtung Osten, die Lichter Reykjavíks sind bereits gut zu sehen. Hier begann vor 14 Tagen und 3146,55 Kilometern eine unglaubliche Reise, und es fühlt sich an, als sei ich nie weg gewesen. Oder eine ewig lange Zeit.

Die ersten beiden Logbucheinträge von Tim Gutke können Sie hier und hier nachlesen.

Wer diese Reise ebenfalls erleben mag, kann am 28. Mai 2024 (15 Tage/14 Nächte) in Reykjavík auf der Le Commandant Charcot einchecken, aktuell ab 21.260 Euro pro Person. Mehr Infos gibt es hier.