Logbuch Teil 2: Eisbär in Sicht

Die Le Commandant Charcot ist das einzige Kreuzfahrtschiff, das an Grönlands Küste fahren kann, solange dort fest der vorherrschende Aggregatzustand von Wasser ist – eine unglaubliche Reise an Orte, die lange unerreichbar schienen. Und ein Logbuch, brühwarm, Verzeihung, eiskalt serviert, direkt aus der Arktis.
 
Text Tim Gutke

Montag, 12. Juni, Tag 5

Kühles Nass: Das Wasser um die Le Commandant Charcot hat eine Temperatur von minus ein Grad Celsius.

Der Morgen beginnt mit einem handfesten Frühstück im Buffet-Restaurant Sila auf Deck 9. Eggs Benedict, etwas Melone, Ananas und ein grüner Saft. Während eine kleine Gruppe von Gästen – mit Schneeschuhen und den orangefarbenen Polarjacken ausgerüstet – in Richtung Ittoqqortoormiit stapft, sind im Gegenzug einige Bewohner des Dorfes schon auf dem Schiff. Ein interkultureller Austausch – wir gehen zu ihnen, sie kommen zu uns. Eine charmante Feststellung: Nicht der Hubschrauber auf dem Helideck ist für die Inuit am interessantesten, nein, die gläsernen Fahrstühle, die zwischen Deck 3 und 9 fahren und von der Lobby aus gut sichtbar sind, begeistern die Besucher am meisten. 14 Uhr: Treffen vor dem Schiff. Aufgereiht wie Zinnsoldaten stehen die Skier bereits im Schnee und glänzen in der Sonne. Mit ihnen geht es auf der Eisfläche in Richtung Norden. 

Das Anschnallen ist einfach, der Bewegungsablauf auch, und es ist weit weniger anstrengend als mit den Schneeschuhen. Das Thermometer zeigt zwei Grad an. Dieses Mal bin ich klüger und lasse die dicke Polarjacke gleich in der Kabine. Besonders hier draußen gilt: Survival of the fittest. Nur wer sich schnell anpassen kann, überlebt. Der Rhythmus, wie man sich durch den Schnee bewegt, hat eine fast meditative Wirkung. Rund zwei Kilometer vom Schiff entfernt hält unsere kleine Gruppe für eine Teepause. Ein herrlicher Moment der Ruhe. Der Tee wärmt den Becher, der Becher die Hände und irgendwie alles zusammen das Herz. Beobachtung: Große Dinge, wie beispielsweise ein Schiff im Eis, wirken auf einer so großen Fläche von Nichts näher dran, als man denkt. Der Weg zurück zum Schiff dauert dann auch weit länger als gedacht.

Abfahrt, es geht weiter in Richtung Norden. Die Le Commandant Charcot schiebt sich elegant durchs Eis. Besonders gut kann man das von der Brücke aus sehen. Diese ist öffentlich zugänglich. Also besuche ich Kapitän Étienne Garcia an seinem Arbeitsplatz. „Komm rein“, ruft er und winkt mir zu, als ich im Türrahmen stehe. Das ist die Exklusivität eines „kleinen“ Schiffes. Man kennt sich nach wenigen Tagen. Von hier oben hat man einen unvergleichlichen Blick über den ganzen Fjord. „Morgen wird es eine schöne Überraschung geben“, sagt der Kapitän und knufft mich freundschaftlich mit dem Ellenbogen. „Eisbären?“, frage ich. Er lächelt und widmet sich wieder seinen Messgeräten. Die restlichen Stunden des Tages vergehen entspannt zwischen Detox-Saft, ein paar Bahnen im Pool und zwei Saunagängen. Das allabendliche „Recap and briefing“-Treffen löst das Geheimnis des Kapitäns auf. „Morgen Abend werden wir auf dem Helideck dinieren, aber vorher im Meer schwimmen“, sagt Steve Moir und schiebt nach: „Natürlich nur, wer auch will. Das Wasser hat minus ein Grad Celsius.“ Ich will. 

Dienstag, 13. Juni, Tag 6

Auch um 23 Uhr ist die Sonne in der Arktis noch nicht untergegangen.

Der morgendliche Blick hinter die schweren Vorhänge ist ein Rorschachtest in Blau-Weiß – immer irgendwie gleich und doch völlig anders. Die Le Commandant Charcot hat ihre Fahrt am frühen Morgen beendet, und ein emsiges Treiben hat nun das ganze Schiff gepackt. Für den sogenannten Polar Plunge, das Schwimmen im Eismeer, müssen viele Vorkehrungen getroffen werden. Zelte werden aufgestellt, Teppiche verlegt und Decken und Thermoskannen von Bord geschafft. Um 16.20 Uhr soll das Spektakel starten. Ich bin in der Gruppe 2. Der Tag bis dahin ist mit Vorträgen gefüllt. Alles freiwillig, versteht sich. Neben den Vorträgen gibt es natürlich Konzerte, man kann Tango lernen oder sich an Rätseln versuchen – alles nicht mein Interessenbereich. 

Eine Gruppe von Gästen bricht gerade mit Kajaks auf, während ich von Jaakusaaq Sørensen, einem Inuit-Guide, etwas über die Religion der Grönländer lerne. Meine Kajaktour ist für die kommenden Tage angesetzt. Im Spa, 15 Uhr – ich bereite mich seit 30 Sekunden im Eisraum (minus elf Grad Celsius) seelisch und körperlich auf den Sprung ins Wasser vor –, kommt folgende Nachricht aus den Lautsprechern: „Der Polar Plunge muss leider verschoben werden, das Eis hält womöglich an der Stelle die vielen Menschen nicht – Sicherheit geht vor.“ Wie bedauerlich, denke ich und breche mein vermeintliches Training im Eisraum sofort ab. Nicht, dass ich mich noch erkälte. 

Um 18.45 Uhr beginnt das Dinner auf dem Helideck mit Kaviar und Champagner. Lehrreich: Wenn es um Kaviar und Champagner geht, verstehen selbst sehr vermögende Weitgereiste keinen Spaß. Das Gedränge an dem Tisch erinnert schwer an die Schnäppchen-Schlägereien zum Sommerschlussverkauf. Ich habe mich etwas abseits gestellt und genieße den Blick auf die liebevoll gedeckten Tische vor diesem unglaublichen Bergpanorama. Das Dinner ist ein einmaliges Erlebnis. Was in meinen Ohren erst wie eine seltsame Idee klang, entpuppt sich als großes Vergnügen. Ich sitze in bester Gesellschaft an einem Tisch interessanter Menschen aus Vancouver, Paris, New York und Miami. Dass die Sonne nicht untergegangen ist, als ich mich um 23 Uhr verabschiede, haut meinen Biorhythmus ziemlich aus der Spur.

Mittwoch, 14. Juni, Tag 7

Vom Helideck aus kann man den Eisbären bei seiner Schneewanderung beobachten.

Kopfschmerz. Ein kleiner Kater begrüßt mich. Nicht schlimm, der heutige Tag ist für den Transfer vorgesehen. Das Schiff wackelt immer wieder ordentlich, wir fahren durch Packeis. Ich versuche, bei zwar konstantem, aber schwachem Internet einige Mails zu bearbeiten, bekomme aber keinen Fokus und verbringe Stunden damit, fast regungslos aus dem Fenster zu schauen. Es ist faszinierend, wie sich die großen Risse durch das Eis ziehen, wie Straßen durch eine gewaltige, flache Stadt. Ich frage mich: Wie kann etwas, das sich kaum verändert, anhaltend so spektakulär sein? Ich bekomme prompt eine Antwort. Aber eine andere, als ich erwartet habe. Es ändert sich nämlich doch etwas. „Polarbär!“, tönt es um 13 Uhr aus den Lautsprechern. „Polarbär direkt vor uns!“ 

Ich greife meine Jacke und laufe in die Observation Lounge auf Deck 9. Und da liegt er! Nein, nicht in der Lounge, sondern gut 200 Meter vom Schiff entfernt auf dem Eis und schläft. Man kann das Tier gut mit bloßem Auge sehen. Beeindruckend. Wenn er sich auf die Hinterbeine stellt, kann er bis zu drei Meter groß sein. „Das ist die Qualität dieses Schiffes“, sagt eine Florence aus Paris, mit der ich gestern an einem Tisch saß und die bereits ein zweites Mal auf der Le Commandant Charcot fährt. „Du kommst ganz nah ran.“ Zehn Minuten später wacht der Polarbär auf und schaut sich den großen blau-weißen Besucher in seinem kalten Reich genauer an. Bis auf 50 Meter kommt er an das Schiff heran. Wir schauen den Bären an. Der Bär schaut uns an. Dann befindet er: nicht interessant. Gelassen zieht er von dannen und lässt 140 Passagiere verzückt zurück. 

Später im Briefing stellt sich heraus, es war ein etwa vier Jahre alter, männlicher Bär in guter körperlicher Verfassung. Er bleibt nicht der einzige Vierbeiner in freier Wildbahn an diesem Tag. Eine Stunde nach der ersten Sichtung taucht eine Mutter mit zwei Jungtieren steuerbord auf. „So liebe ich das“, ruft der Kapitän aus den Lautsprechern, „so liebe ich das!“ Lange schaue ich vom Helideck aus der kleinen Familie bei ihrer Schneewanderung zu. So lange, bis sich meine Finger bei starkem Wind und gefühlten minus 20 Grad blau gefärbt haben. Mein direkter Weg führt mich in die Sauna. Welch ein Privileg, sich dieser Kälte hinter der Scheibe so entziehen zu können. Das Abendessen lasse ich mir auf die Kabine bringen. Das Erlebte mag ich alleine verarbeiten und nicht an einem Tisch im Restaurant mit zehn anderen Gästen über die Tatzenform plaudern oder den Gang des Tieres analysieren.

Donnerstag, 15. Juni, Tag 8

Reiselektüre: „The White Darkness” von David Grann.

Ich erwache aus einer traumlosen Nacht, das Schiff ist noch in Bewegung. Heute Nachmittag erreichen wir den Northeast Greenland National Park. Mit seinen 972.000 Quadratkilometern nimmt er fast 45 Prozent der Landmasse Grönlands ein und ist damit der größte Nationalpark der Welt. Neben Eisbären haben hier 15.000 Moschusochsen eine geschützte Heimat gefunden. Das sind 40 Prozent der weltweiten Population. Um 10.45 Uhr lausche ich gespannt der Naturwissenschaftlerin Alizée Fouchard bei ihrer Präsentation über Polarbären. Oder wie die Inuit sagen: Nanuk. Das mächtige Tier hat viele Namen, und ein männliches Exemplar kann bis zu 600 Kilo wiegen, sagt Alizée. Das entspricht rund acht Waschmaschinen. Ich bin kürzlich umgezogen, und da haben sich drei kräftige Männer in meinem Treppenhaus mit einer schon ordentlich abgemüht. 

Es ist im Übrigen nicht erlaubt, einem Polarbär näher als 200 Meter zu kommen. Außer: Er kommt freiwillig auf einen zu. Die Inuit aus Ittoqqortoormiit, dem Dorf am Ende der Welt, dürfen 35 Bären im Jahr schießen. Und in Kanada kostet so etwas 200.000 Euro je Bär. Komisch, dass ich dachte, dass das niemand darf. Seltsam naiv von mir. Nebel zieht auf. Er ist so dicht, als würde man in eine Schüssel Kartoffelbrei blicken. Alle Aktivitäten für heute sind abgesagt. Auch das ist eine Expedition: Es läuft eben nicht immer nach den Tagesprogrammpunkten. Ich nehme mir das Buch von David Grann zur Hand und setze mich mit Polarjacke, Wollmütze und dicken Handschuhen auf die beheizten Bänke und lese. Sich in dieser Umgebung so etwas Profanem wie einem Buch widmen zu können, ist wahrhaft luxuriös. Backbord und steuerbord bricht das Eis, ich lasse mir ein Glas Champagner bringen.

Den ersten Logbucheintrag von Tim Gutke können Sie hier nachlesen, der nächste Eintrag folgt in den nächsten Tagen auf robbreport.de.

Dieser Beitrag wurde in Zusammenarbeit und mit freundlicher Unterstützung von Ponant erstellt. Dabei wurden die Standards der journalistischen Unabhängigkeit gewahrt.