Logbuch Teil 1: Ein Traum in Weiß
Der Flieger LH856 aus Frankfurt landet auf einem traurigen Island – es regnet seit drei Tagen ununterbrochen. „Eigentlich ungewöhnlich für diese Jahreszeit“, sagt mein Fahrer, „aber was ist in diesen Tagen schon gewöhnlich?“ Wohl wenig, denke ich. Es ist ja auch möglich, mit einem Luxuskreuzfahrtschiff an Orte vorzudringen, die für Gäste lange unerreichbar schienen. Der Fahrer biegt die Limousine auf den Zubringer zum Hafen von Reykjavík, da steht sie, unübersehbar: die Le Commandant Charcot von Ponant, eines der modernsten Kreuzfahrtschiffe der Welt. Die 150 Meter lange Erscheinung verfügt über einen Hybridantrieb und ist als Eisklasse PC2 ausgewiesen – alles eingepackt in ein königliches Blau und edles Weiß. 14 Tage werden wir uns nun gemeinsam an Grönlands Küste vorarbeiten – zwischen ewigem Eis und zeitgemäßem Luxus. Le Commandant, ich bin bereit.
Donnerstag, 8. Juni, Tag 1
Ab 16 Uhr kommen die 140 Gäste an Bord. Die Stimmung ist entspannt, erste Erwartungen an die Tour werden bereits jetzt ausgetauscht. Was ich erwarte? Ganz klar, Eisbären. Und davon viele, verkünde ich. Eine kurze Dame aus Japan kichert. Erwarte ich zu viel? Viele Gäste in der Warteschlange sind aus Frankreich angereist, einige aus den USA, Australien, Holland oder Japan. Der Kapitän Étienne Garcia, ein drahtiger Kerl, immer mit einem Lächeln auf den Lippen, schlüpft leichtfüßig an der Rezeption im 5. Stock vorbei, während hier einige Gäste gerade ihren Reisepass abgeben, um dafür eine ID-Karte zu erhalten. Diese dient zum Zahlen, öffnet Türen und ist so etwas wie eine Lebensversicherung: Mit ihr muss sich jeder digital ein- und auschecken, wenn er das Schiff verlässt und wieder betritt. Wenn nicht alle Karten wieder eingecheckt sind, fährt das Schiff nirgendwohin.
„Wir werden viel Eis aus dem Norden bekommen, und es ist wunderbar weiß“, witzelt der Kapitän und taucht in der Masse unter. Die Le Commandant Charcot ist das einzige Kreuzfahrtschiff im Hafen von Reykjavík, das zu dieser Jahreszeit von hier aus in Richtung Eis aufbricht. Alle anderen fahren wieder runter. So wie die AIDAsol, die um 20 Uhr am Pier gegenüber ablegt. Um 20.30 Uhr lassen auch wir die Leinen los und kennen von nun an nur noch eine Richtung: hoch in den Norden. Meine Kabine hat die Nummer 745, ich lasse mich rücklings aufs Bett fallen, der Schlaf kommt schlagartig. Während einer traumlosen Nacht schiebt der Hybridantrieb mit einer Gesamtleistung von 46.277 PS das Schiff gelassen an Island vorbei.
Freitag, 9. Juni, Tag 2
Es ist 7.20 Uhr, ich wache in einer zauberhaften Kabine auf, die gestern Abend von mir nicht mehr die Aufmerksamkeit bekommen hat, die sie verdient. Ein weiches Bett, ausreichend Platz, Leder, Holz und ein wundervoller Balkon – alle Kabinen auf dem Schiff sind Außenkabinen. Ich lag schon in Hotelzimmern von edlen Häusern, die weit weniger boten. Der Tagesablauf verspricht viel Organisatorisches: Schulung zu den jeweiligen Expeditionen, Sicherheitsvorkehrungen, Polarjacken anprobieren und eine Vielzahl von Unterschriften leisten, die bezeugen, dass ich gesund bin und das alles verstanden habe.
Um 12.31 Uhr zieht die Westspitze Islands steuerbord vorbei, vor uns das offene Meer. Im À-la-carte-Restaurant bestelle ich zu Mittag ein Rote-Bete-Carpaccio mit Ziegenkäse als Vorspeise und japanisches Okonomiyaki als Hauptgang. Um 14.37 Uhr wird das erste Eis aus Grönland gesichtet. Die Stücke sind so groß wie ein Smart und wie weiße Sommersprossen im großen, weiten Blau verstreut. Erst wenige, vereinzelt. Dann viele und immer dichter, so weit das Auge reicht. Ich setze mich auf die beheizten Außenbänke auf Deck 5 und beobachte das Treiben, bis mich die Stimme des Kapitäns aus den Lautsprechern aus meiner Tagträumerei reißt. Das 16-köpfige Expeditionsteam aus acht Nationen möchte sich den Gästen vorstellen – Abenteuer wird hier ernst genommen.
Während der Präsentation rumpelt es plötzlich ordentlich. Das Schiff wackelt, Verunsicherung in den Gesichtern. Eine alte Dame verliert vor Schreck ihr Glas, es rollt die Treppe hinunter. Die Le Commandant Charcot hat das erste Eis großflächig durchschlagen. Es fühlt sich wie Turbulenzen im Flieger an. „Keine Angst“, sagt der Kapitän, „wir sind nicht die Titanic, wir fahren einen Eisbrecher.“ Alle lachen, Verunsicherung weicht Entspannung. Um 18.21 Uhr kann ich vom Laufband im Gym durch das große Fenster den ersten Wal unserer Reise sehen. Ein majestätisches Tier, das zur Begrüßung eine fünf Meter hohe Fontäne aus seinem Atemloch schießt. Unweigerlich winke ich. Schon ist er wieder untergetaucht, als sei nichts gewesen.
Samstag, 10. Juni, Tag 3
Festland. Grönland. Wie Sahne ergießt sich der Schnee über die bis zur Wasserkante reichenden Bergformationen. Eine Landschaft wie aus einer anderen Welt. Davor das dicke, weiße Eis, dazwischen die Le Commandant Charcot, die spielerisch durch dieses gleitet. Das Geräusch erinnert an einen beherzten Biss in ein Magnum Mandel. Am Abend erreichen wir dann Ittoqqortoormiit, das Schiff stoppt und bleibt im Eis stehen. Ein Anker ist nicht notwendig, das Eis hält es fest im Griff. Die Siedlung mit ihren vielleicht 250 bunten Häusern liegt am Fuße eines Berges, umgeben von Eis und Schnee.
Die Le Commandant Charcot hat 15 Paletten Früchte in ihrem Bauch geladen, auf die man hier bereits sehnsüchtig wartet. „Wir sind die Ersten, die dieses Jahr hier etwas hochbringen, und wir werden auf unserer letzten Tour die Letzten sein. Ansonsten kommt hier nämlich niemand vorbei“, sagt Étienne Garcia, der Kapitän. Die Le Commandant Charcot ist eben nicht nur ein Luxuskreuzfahrtschiff und eine schwimmende Forschungsstation, sondern auch ein Vermittler zwischen den Welten. „Wir sind Besucher und Freunde, keine Missionare. Wir werden hier Dinge sehen, die wir mit einem Blick durch die europäische Brille vielleicht anders machen würden, aber davon müssen wir uns lösen“, sagt Expeditionsleiter Steve Moir. Der Kanadier hat über 20 Jahre Expeditionserfahrung.
Draußen fallen die Temperaturen unter null. Die Sonne geht nicht unter, es bleibt hell. Das Licht ist unvergleichlich klar, die Sicht grenzenlos. Die Le Commandant Charcot liegt rund einen Kilometer vor Ittoqqortoormiit und bleibt zwei Nächte im Eis. 352 Menschen leben in dem Dorf, dem entlegensten Ort Grönlands. Die nächstgelegene Menschenansammlung heißt Sermiligaaq und ist 780 Kilometer südwestlich entfernt. Zeit fürs Dinner. Inuit rasen auf ihren Skidoos über die geschlossene Eisdecke, man kann sie durch das Panoramafenster gut sehen. Es gibt Seebrassen und im Anschluss Kabeljau aus Island in einem Orangen-Zitronen-Bett.
Sonntag, 11. Juni, Tag 4
Namensgeber der Le Commandant Charcot ist der französische Polarforscher Jean-Baptiste Charcot, der im Jahr 1936 mit seinem Forschungsschiff während eines Sturms vor Island auf einen Felsen lief und sank. In Ittoqqortoormiit steht eine Gedenktafel. Das weiß ich, weil ich eben noch vor ihr stand. 8.30 Uhr, mit Schneeschuhen und einer Gruppe von 15 Mitreisenden geht es heute ins Outback. Die Le Commandant Charcot wurde im Juli 2021 von der Werft ausgeliefert und hat über 274 Millionen Euro gekostet. Wenn ich so von Land auf sie blicke, wie sie da im Eis liegt, kann ich mir keinen Felsen der Welt vorstellen, der sie zum Sinken bringen könnte.
Unser Guide Quentin Chesaux aus der Schweiz schultert sein Gewehr. „Los geht’s“, ruft er. Da hier hinter jedem Stein ein Polarbär sitzen könnte, sind die Guides mit einer Schreckschusspistole und einem Gewehr ausgerüstet – und auf beidem trainiert. Bisher ist aber glücklicherweise noch kein Bär diesen Touren zum Opfer gefallen. Der Schnee lässt sich mit den Schneeschuhen leicht gehen, die Sonne brennt vom blauen Himmel. Ich ziehe die dicke Polarjacke aus, die dünne Funktionsjacke reicht völlig. Vier Stunden geht die Tour durch eine Landschaft, die es so kein zweites Mal gibt. Es wird geschnaubt, geschwitzt und schwer geatmet. Eine Schar Vögel lacht uns aus. Plötzlich steht Kacy aus Chicago neben mir. „Ich war letztes Jahr schon mit dem Schiff hier“, sagt sie, „und wir haben Polarbären gesehen, die 150 Meter entfernt auf der Eisfläche standen, während wir durchs Eis brachen. So leise ist der Antrieb.“ Kacy ist technikverliebt. Ich bin gespannt.
Auf dem Rückweg liegt die Le Commandant Charcot im Nebel. Ein imposantes, fast surreales Bild, wie die Hundeschlitten der Inuit um das Schiff kreisen, wie Bienen um den Stock. Nachmittag ist Spa-Zeit. Der Blick durch die große Fensterfront der Sauna geht direkt auf das Treiben vor Ittoqqortoormiit. Ich ziehe mir ein Buch aus dem Regal in der Bar auf Deck 9, „The White Darkness“ von David Grann, einem amerikanischen Journalisten, der die Geschichte von Henry Worsley aufschrieb, der wiederum das Grab von Ernest Shackleton suchte. Eine leichte Gutenachtlektüre, obwohl Shackleton bekanntermaßen auf der anderen Seite der Erde segelte. Eis bleibt Eis. Denn morgen geht es auf Skiern für mich in das scheinbar endlose Weiß.
Alle weiteren Logbucheinträge von Tim Gutke können Sie in den nächsten Tagen hier auf robbreport.de verfolgen.
Dieser Beitrag wurde in Zusammenarbeit und mit freundlicher Unterstützung von Ponant erstellt. Dabei wurden die Standards der journalistischen Unabhängigkeit gewahrt.