Switzerland mon amour
Die idyllische Schweiz
Ach, die Schweiz. Kaum ein Land auf diesem Planeten, das so klein, so cute – und so voller Klischees ist. Die Schokoriegel mit den ganzen Nüssen. Die Gemeinden mit den niedrigen Steuersätzen. Die Preise, mindestens doppelt so hoch. Die Flüsse, so sauber, dass man daraus trinken könnte, mit hochoffizieller Badestelle und gratis dazu. Die geschwungenen Landschaften und hingetupften Seen, fast zu perfekt, um wahr zu sein. Ein Instagram-Idyll.
Und die Berge erst, von der Rigi bis zum Matterhorn, die aber nicht nur legendäre Panoramablicke bieten; sondern auch Enge symbolisieren. Die Punks in Zürich gaben, von brennenden Städten träumend, einst die Parole aus: „Freie Sicht aufs Mittelmeer!“ David Bowie resümierte nach 20 Jahren Schlossurlaub am Genfer See: „Ich hatte gedacht, ich sei groß genug, um über die Alpen zu sehen.“ War er dann doch nicht.
Eine Insel ohne Meer
Die Schweiz zieht Prominente an und Privatiers, Investoren und Aussteiger, Konzerne und Kreative. Man kommt wegen der Höhenluft und wegen des Essens, zum Skifahren und zum Paragliden, zum Digital Detox und für die Kunst und, ja, auch das: zum schöneren Sterben, von eigener Hand. Die Schweiz ist eine Insel ohne Meer, mitten in good old Europe. Mit einem Völkchen, das gerade mal 8,7 Millionen Menschen zählt, hat sie sich längst als Synonym für Wohlstand etabliert. Costa Rica gilt als Schweiz Lateinamerikas, Botswana ist die afrikanische, Singapur die asiatische Version.
Erste Erkenntnis über jenes Land, dessen Fläche zwar zu 60 Prozent aus Stein besteht, das aber trotzdem mit 81 760 Franken das nach Luxemburg weltweit zweithöchste Bruttoinlandsprodukt pro Kopf aufweist: size matters. Wie angenehm, dass hier alles gleich in der Nähe ist. Nicht nur Touristen, auch Unternehmen wissen das zu schätzen. Nach Zürich sind es vom Flughafen zehn Minuten. In Bern braucht man drei Stationen mit der S-Bahn und ist mitten im Grünen. Lebensqualität – ein Standortvorteil. Wer außerhalb wohnt, springt im Sommer, den Anzug im wasserdichten Säckli verstaut, in die Aare und lässt sich Richtung Office treiben; so machen das selbst Topmanager. Wer mag, geht morgens bergwandern, mittags im See baden, nachmittags Crêpes essen, abends in die Oper. Hier die abgeschiedene Provinz, da die überschaubare City. Hier ein bisschen Frankreich, da ein bisschen Italien. Von allem etwas. Ohne eine Grenze passieren zu müssen. Vielfalt und menschliches Maß, hier scheint sich beides miteinander zu verbinden.
Klein aber fein
Der vor Kurzem wiederentdeckte deutsch-britische Ökonom E.F. Schumacher – der 1977 auf einer Bahnfahrt von Lausanne nach St. Moritz einem Herzinfarkt erlag – hat das menschliche Maß in seinem berühmten Buch Small is beautiful zum Hauptthema gemacht. „Menschen können nur in kleinen, überschaubaren Gruppen sie selbst sein“, so seine Erkenntnis. „Wir müssen daher lernen, uns gegliederte Strukturen vorzustellen, innerhalb derer eine Vielzahl kleiner Einheiten ihren Platz behaupten kann.“ Dafür würde die Schweiz eigentlich die besten Voraussetzungen bieten.
Die zahllosen Gemeinden, es sind derzeit exakt 2148, wie auch die 26 Kantone entscheiden in wichtigen Fragen eigenständig. Und spiegeln dabei die Gegensätze des Landes wider. Wie beim Wahlrecht, wo es, kaum zu glauben, im Kanton Appenzell Innerrhoden noch bis 1990 kein Wahlrecht für Frauen gab; während in einem anderen – und nur dort im Kanton Glarus – seit 2007 bereits 16-Jährige wählen dürfen. Auch bei der Anwerbung internationaler Unternehmen liefern sich Gemeinden und Kantone einen Konkurrenzkampf. Denn das Einzigartige am Schweizer Modell ist, dass sich Steuersätze von Region zu Region unterscheiden. Und im Einzelfall mit Unternehmen sogar individuell ausgehandelt werden können. Nach dem Motto: „Wir renovieren euch das Schwimmbad, liebe Gemeinde. Und ihr macht uns ein freundliches Angebot.“ Dies lässt sich mit Steuervorbescheiden regeln, sogenannten Tax Rulings, und ist absolut gesetzeskonform. Es ist das regional ausgerichtete Steuersystem, dessen Wirkungen sich erst auf globaler Ebene voll entfalten. Gewinne können so lange verschoben werden, bis sie irgendwann eben hier, in der Schweiz, landen und zum nationalen Reichtum beitragen. Das Prinzip ist einfach.
Dominik Gross, Historiker und Finanzexperte beim Schweizer Thinkand- Do-Tank Alliance Sud mit Sitz in Bern, beschreibt es so: Ein multinationaler Rohstoffhändler, etwa Glencore, 1974 im Kanton Zug gegründet, kaufe einer Mine in Sambia Kupfer zu einem Preis deutlich unterhalb des Marktwerts ab. Da Glencore die Mine selbst gehöre, sei das kein Problem. Vom Kanton Zug aus werde der Rohstoff an andere Konzerne, zum Beispiel an Hersteller von Kraftwerken, zu marktüblichen Preisen weiterverkauft. Die Mine in Sambia verliere und müsse vor Ort kaum Steuern abführen. Die Händler in Zug würden gewinnen und kräftig Steuern sparen. Und der Kanton nehme trotz niedrigem Steuersatz immer noch vergleichsweise hohe Summen ein.
Der Global Player
Zuletzt lag der Steuersatz in Zug bei 11,8 Prozent – deutlich unterhalb der 25 Prozent oder mehr, die in afrikanischen Ländern abgeführt werden müssten. Und immer noch unterhalb jener 15 Prozent, die jüngst von 130 OECD-Ländern als zukünftiger Mindestsatz für Großkonzerne beschlossen wurden – was in den Kantonen gerade für eine Menge Diskussionsstoff sorgt. „Die Schweiz hat zwar eine direkte Demokratie“, sagt Dominik Gross von der Alliance Sud, „die Steuerpolitik aber ist ungerecht. Viel Geld, das hier versteuert wird, gehört eigentlich anderen.“ Auch die Schweiz ist eben, grandios im Gebirge versteckt, ein Global Player. Immerhin ist ein Viertel der Schweizer in einer multinationalen Unternehmensgruppe tätig. Es gibt die Start-ups und die traditionellen Familienclans, die Kryptofreaks und die Genossenschaften, die Businessleute und die innovativen Idealisten. Hier wird genauso mit- und gegeneinander Wirtschaft getrieben, gepokert, um politischen Einfluss gestritten. Wenn auch, wie es von außen scheint, ein bisschen anders. Höflicher. Freundlicher. Mit mehr Respekt. Manchmal auch: hinterhältiger. Meistens aber: mit besserer Laune. Das mag, neben der guten Luft natürlich, an jener Normalität liegen, die sich seit Jahrhunderten über das Land gelegt und die in all ihrer Unscheinbarkeit etwas Beruhigendes hat.
Immerhin ist es der Schweiz gelungen, niemals direkt an einem Krieg beteiligt gewesen zu sein. Unzerstört. Nie war sie nur Wanderparadies, immer auch Einwanderungsland. Und seit 1848 ist die Confoederatio Helvetica (wie sie offiziell und amtssprachenübergreifend heißt; deshalb das Landeskennzeichen CH) noch immer die multikulturelle, eigenständige und auf Toleranz gegründete Republik, die sie damals, in einem revolutionären Akt, geworden ist. Unverändert, bis heute. Kein anderes europäisches Land kann das von sich behaupten. Doch das überall geliebte Switzerland, es zeichnet sich nicht nur durch Kontinuität und jene Hier-ist-die-Weltnoch-in-Ordnung-Gemütlichkeit aus, die das Land in einer digitalisierten, von politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen durchgeschüttelten Gegenwart umso anziehender macht. Es ist die Mischung aus Geist und Kapital, Tradition und Fortschritt, Eigensinn und Exzentrik, die so etwas wie eine alpine Kultur bildet, die zugleich eine Kunst des Lebens und Überlebens bedeutet. Es ist der Mountain Call. Der Berg ruft. Lass uns aufbrechen. Es gibt noch etwas anderes als die Welt hier unten.
Das letzte Paradies Europas
Nietzsche fand es, als er sieben Sommer lang in Sils Maria verbrachte, „6000 Fuß über allen menschlichen Dingen“, wie er schrieb, und inmitten der Landschaft, „durchsichtig, glühend in den Farben, alle Gegensätze, alle Mitten zwischen Eis und Süden in sich schließend“, die produktivsten Phasen seines philosophischen Schaffens durchlebte. Hier entwickelte er, in einem Geistesblitz, die Idee der Ewigen Wiederkunft, hatte Gott für tot erklärt und dafür im Engadin den für ihn absoluten Wohlfühlort gefunden. Seine Maxime in dieser Zeit: Man solle „keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren wurde“. Ähnlich dachten die Utopisten, Künstler und Sinnsucher, die Anfang des 20. Jahrhunderts den Monte Verit oberhalb des Lago Maggiore bei Ascona besiedelten, um sich von den Zwängen der frisch industrialisierten Städte zu befreien, neue Formen des Zusammenlebens auszuprobieren, von der Ernährung über die Liebe bis zur Architektur, und nicht weniger als das pure Dasein zu feiern und sich selbst neu zu erfinden.
Und ganz ähnlich denken heute, ein Jahrhundert später, etwa die Gründer der digitalen Plattform Die Republik in Zürich, denen der Sprung vom Crowdfunding in ein unabhängiges, inzwischen äußerst einflussreiches Magazinformat geglückt ist. Der Anspruch: eine neue kritische Form der Öffentlichkeit zu schaffen, genossenschaftlich organisiert, finanziell komfortabel, auf bestmöglichem handwerklichem Niveau. In der Schweiz geht es höher hinauf als anderswo, und gerade weil sie so klein ist, ist sie vielleicht das letzte Paradies Europas. Doch man darf sich nicht täuschen lassen.
So wie sich hinter jedem Berg noch ein weiterer auftut, liegt hinter jeder Schweizer Geschichte eine weitere, die noch einmal etwas ganz anderes erzählt. Hinter der Geschichte der Uhrenindustrie, die 1867 mit Longines beginnt, entfaltet sich die Geschichte der Uhrmacher von Saint-Imier, die in langen Winternächten Uhren zusammenbauten, um dann, von einer ersten Welle der Globalisierung getroffen, einen anarchistischen Bund zu gründen; und nach der zweiten großen weltweiten Krise, der Quarzkrise, ist es heute der Uhrmacher Philippe Dufour, der wie früher, in Hingabe und der Abgeschiedenheit seines Ateliers im Vallée de Joux, Uhren fertigt, für die manche bereit sind, über 700 000 Franken auszugeben. „Man kann nicht immer auf den Gipfeln bleiben“, schrieb der Schriftsteller René Daumal in seinem Kultbuch Der Berg Analog, „man muss wieder hinunter. Wozu dann überhaupt? Darum: Das Oben kennt das Unten, das Unten kennt das Oben nicht.“