Sehnsuchtsort Gstaad
Gstaad – come up and slow down
Wer nicht mit dem eigenen Auto unterwegs ist, wählt für die Weiterfahrt von Interlaken nach Gstaad ab Zweisimmen den zweimal am Tag auf der Strecke nach Montreux verkehrenden Luxuszug GoldenPass Belle Époque der MOB, der – ganz ohne Aufpreis – ein plüschiges Reiseerlebnis im Stil der 30er-Jahre bietet. Während man auf der Fahrt in den unverschämt bequemen Polstersesseln versinkt, zieht vor den Fenstern eine grandiose Schweizer Bilderbuchlandschaft vorbei.
Würden am nächsten Weiler Heidi oder Geissenpeter zusteigen, die Fahrgäste würde es kaum wundern. Genau das richtige Fortbewegungsmittel also für die Zeitreise nach Gstaad, wo, anders als in St. Moritz oder Davos, dank strikter Bauvorschriften bis heute ungetrübte Chalet-Romantik das Ortsbild bestimmt. Tatsächlich ist an kaum einem anderen Flecken der Schweiz alpines Brauchtum noch so lebendig. Man ist stolz auf seine Traditionen und lebt sie. So ist die Züglete im September, der traditionelle Alpabtrieb, bei dem die Bauern ihre bunt ausstaffierten Kühe von den Sommerweiden ins Tal treiben, noch immer einer der Höhepunkte im Eventkalender von Gstaad.
In der Bilderbuchlandschaft entschleunigen
Diese Bodenständigkeit, gepaart mit dem diskreten Charme der Luxushotellerie, ja, das überall gepflegte, fast schon britische Understatement haben die Region nach dem Zweiten Weltkrieg innerhalb weniger Jahre zu einem der populärsten Rückzugsorte des Geldadels gemacht. Doch wäre es falsch, Gstaad deshalb als typische Promidestination abzutun. Im Gegenteil. Seit Jahren tut man hier alles, um mit nachhaltigen Angeboten eine möglichst breite Palette an Gästen anzusprechen – das Motto: „Come up, slow down“ – Entschleunigung statt Action-Marathon.
Beispielsweise während einer Kutschfahrt zum Lauenensee. Auf dem Bock sitzt dabei Ernst Reichenbach. Immer wieder lässt der Seniorchef des Familienfuhrbetriebs dezent die Peitsche schnalzen, denn die beiden fuchsbraunen Freiberger Stuten Fanny und Ravenna, die das rustikale Gefährt mit gemächlichen sechs Stundenkilometern bergauf ziehen, scheinen das Credo der Entschleunigung ebenfalls verinnerlicht zu haben. Mit gemütlichen zwei PS überwindet man so immerhin rund 150 Höhenmeter, bis schließlich der von Schilf gesäumte See erreicht wird. Im Winter, erzählt Reichenbach, bietet er seinen Gästen auch Pferdeschlittentouren an. Die Kutsche hat der gelernte Hofwagner selbst gebaut. Wer es aktiver mag, entscheidet sich für Lama- und Ziegen-Trekking oder macht beim Käsen auf einer Alp mit, muss dafür aber schon vor Sonnenaufgang aus den Federn steigen.
Landschaft aus der Höhe genießen
Im Sommer locken außerdem hochkarätige Musik- oder Sportevents wie die EFG Swiss Open Gstaad und das Gstaad Menuhin Festival, die bis zu 20 000 Besucher anlocken. Eine der besten Möglichkeiten, die Schönheit dieser ursprünglichen Landschaft zu genießen, bietet außerdem auch hier ein Tandemflug am Gleitschirm. Dazu geht es mit Fabrice von Paragliding Gstaad am späten Vormittag per Sessellift in wenigen Minuten auf den nahe gelegenen, rund 1800 Meter hohen Wasserngrat, wo wir uns nach kurzer Einweisung – und nur gehalten von zwei dünnen Nylonriemen, die unseren Sitzgurt mit dem Geschirr des Piloten verbinden – in einen bodenlosen Abgrund stürzen, bevor eine leichte Brise den schneeweißen Gleitschirm wie von Zauberhand in den Himmel trägt, bis wir rund 25 Minuten später wieder sicher im Tal landen.
Prunk ohne Protz – Dezente Extravaganz
Zurück am Boden steht noch ein Abstecher auf die Promenade, Gstaads Flaniermeile, auf dem Programm. Und auch wenn hier vor allem Luxusshops wie Louis Vuitton, Prada oder der Nobeljuwelier Graff um zahlungskräftige Kunden buhlen, so sind die eigentlichen Attraktionen doch eher alteingesessene Betriebe wie die Buure Metzg, die zahlreiche Hotels in Gstaad beliefert, oder Charly’s Confiserie, wo sich nicht nur ein unkonventioneller Mix aus Tagestouristen, Einheimischen und millionenschweren Chaletbewohnern tummelt, sondern auch die vielleicht beste Cremeschnitte der Schweiz aufgetischt wird.
Nicht weit entfernt liegt auch das familiäre Posthotel Rössli, gleichzeitig auch das älteste Gasthaus von Gstaad. Ein beliebter Treff bei Locals, die sich hier abends auf ein Bier oder ein Glas Fendant treffen und dazu Spezialitäten wie Rindskutteln mit Tomatensauce, Butter-Rösti und Pfefferkäse oder intensiv würziges, getrocknetes Gamsfleisch genießen. Ebenfalls einen Abstecher wert: Pernet Comestibles, wo unter anderem Gstaad Gin und Gstaad Champagne in den Regalen stehen, deren Labels mit typischen Scherenschnittmotiven der Destination Gstaad verziert sind.
Das meiste passiert in diesem alpinen Hideaway allerdings hinter verschlossenen Türen. Exaltierte Partys oder plumpes Protzen ist verpönt. Gefeiert wird im privaten Chalet, nicht im Ballsaal. Gstaad-Fan Roger Moore hat das einmal auf den Punkt gebracht, als er auf die Frage, ob er denn nicht ununterbrochen angesprochen werde, antwortete: „Die Leute interessieren sich hier mehr für mein Auto als für mich.“
Exklusive Adressen
Wer keine fünf oder zehn Millionen Franken für ein eigenes Chalet übrig hat, steigt in einem der rund einem halben Dutzend Fünf-Sterne-Hotels ab. Die vielleicht exklusivste Adresse: das 2012 eröffnete Alpina mit dem einzigen Six Senses Spa der Schweiz und exzellenter Sterne-Gastronomie, das von außen wie ein Chalet der Superlative wirkt und wo man höchsten Wert auf nachhaltigen Luxus legt. Statt in Wegwerfschläppchen steckt man seine Füße hier am Abend in hochwertige Wollfilzpantoffeln mit echtem Lammfellfutter, die man am Ende des Aufenthalts auch noch mitnehmen darf.
Im Megu, höchstdekoriertes asiatisches Restaurant der Schweiz, wird hochkarätige japanische Fusion-Küche serviert. Darunter flambiertes Kagero Yaki Wagyu Beef vom River Stone Grill. Die Auswahl an Sake und den gesuchtesten, kaum noch anderweitig zu bekommenden japanischen Single Malts und Blended Whiskys von Yamazaki, Hibiki oder von Suntorys Erzrivale Nikka ist atemberaubend.
Sehr traditionsreich präsentiert sich das nahe gelegene, historische Gstaad Palace mit seiner markanten Türmchen-Architektur, das unter seinem Dach den angesagtesten Club des Ortes beherbergt – das Green-Go, das mit seiner über dem Pool schwebenden Tanzfläche schon seit den 70er-Jahren als eine der ersten Partyadressen Europas gilt. Eine schicke, etwas ruhigere Alternative ist die One Million Stars Swarovski-Bar im Ermitage Hotel, wo Gäste ihren Cocktail untermalt von sanfter Pianomusik genießen.
Wer mehr Action sucht: In der nahe gelegenen Gipfelarena Glacier 3000 locken Hundeschlittenfahrten und der schwindelerregende Peak Walk by Tissot, der über eine stählerne Hängebrücke zwei Gipfel verbindet.
Bon voyage!