Geständnisse eines Maßschneiders
Ich habe in meinem Beruf schon so viele Dinge gesehen, dass das Extraordinäre inzwischen alltäglich geworden ist. Einmal, vor vielen Jahren, torkelte ein schwer betrunkener Herr in den Laden. Er wollte einen Smoking. Ich wunderte mich, weil mein Chef zwar begann, Maß zu nehmen, dabei aber ein paar Stellen an der Hose ausließ. Dann begriff ich, was geschehen war: Der Herr hatte sich in die Hose gepinkelt. Und selbst rein gar nichts davon bemerkt. Mein Chef und ich dachten, dass wir diesen Menschen wohl nie wieder sehen würden. Doch einen Monat später rief er an, vereinbarte einen Termin für die erste Anprobe. Wir haben ihm dann tatsächlich diesen Smoking verkauft. Der Vorfall kam dabei natürlich nicht zur Sprache.
Ein Smokinghemd als letzter Wunsch
Ein anderes Mal fuhr ich mit einem Kollegen auf Hausbesuch, zu einem berühmten Schauspieler. Als uns die Tür geöffnet wurde, liefen da jede Menge nackte Leute rum. Erst verstand keiner von denen, was wir wollten – oder weshalb wir darauf bestanden, unsere Kleidung anzubehalten. Irgendwann sagte einer: „Moment, das sind die Schneider, die X bestellt hat.“ X stieg dann direkt aus dem Pool – unbekleidet, klatschnass und zugekokst. Ich versuchte, ihn zu vermessen. Doch bestimmte Details des menschlichen Körpers erkennt man ironischerweise besser, wenn die Person bekleidet ist. Nur so sieht man, wie der Stoff fällt. Dass ich mit meinem Maßband nicht wirklich da hinwollte, wo es eigentlich hinsollte, hat sicherlich auch nicht geholfen. Der Kunde hat die ganze Zeit – verzeihen Sie das schlechte Wortspiel – auf dicke Hose gemacht. Er könne mich um die ganze Welt fliegen, mich seinen Promi-Freunden vorstellen. Ich würde dann Millionen verdienen. Bla, bla, bla. Ätzend!
Als Maßschneider begegnen einem alle Varianten menschlichen Verhaltens. Einer meiner Kunden, ein Geschäftsmann, war ebenso wohlhabend wie der Schauspieler, doch charakterlich das Gegenteil: sehr nett und bescheiden. Für gewöhnlich machte sein Sekretär die Termine aus. Eines Tages rief er mich persönlich an. Er sagte: „Würden Sie bitte zu mir ins Büro kommen? Ich bin schwach und krank. Nichts Ansteckendes, aber mein Körper wird sich verändern. Sie werden regelmäßig neu Maß nehmen müssen.“ Ich besuchte ihn alle paar Wochen, änderte sein Schnittmuster, wann immer sich sein Zustand verschlechterte. Als ich ihn das letzte Mal sah, saß er im Rollstuhl, an einem Beatmungsgerät. Er bestellte noch mal sechs Smoking-Hemden. Kurz darauf verstarb er, und die Hemden blieben in meinem Laden liegen. Bezahlt, 700 Euro das Stück. Dieser Stapel von Hemden war das Traurigste, was ich je gesehen habe.
Spendable Kunden helfen aus
Doch grundsätzlich machen mir viele Kunden Freude. Am Tag, als wir den Laden wegen des Lockdowns schließen mussten, rief ein Herr an und sagte: „Wissen Sie, diese sechs Anzüge für die nächste Saison, über die wir gesprochen haben? Ich möchte alle sofort in Produktion geben. Das sollte Ihre Miete für den Rest des Jahres decken.“ Und nach meiner letzten Trunk Show fragte ein anderer Kunde, wie es gelaufen sei. „Nicht so gut“, sagte ich. Er rief drei Freunde an, die sofort in meiner Suite erschienen. Nach einer halben Stunde hatte ich 50.000 Euro Umsatz.
Apropos spendabel: Ich hatte mal einen Kunden, der je Saison eine Viertelmillion Euro ausgab. Jeden Winter kaufte er die gleichen sechs Anzüge aus Kaschmirflanell, nur weil die vom letzten Jahr minimal getragen waren. Er wollte alle mit einem Innenfutter aus Hermès-Schals haben. So war er nun mal. Und wissen Sie was? Neben allen diesen verrückten Kunden braucht man einfach ein paar aufgeräumte wie ihn! Ganz normale Kunden eben.