Mechanische Uhren mit Gongschlag
Der komplizierteste aller Uhrenmechanismen geriet in Vergessenheit
Jahrzehntelang interessierte sich niemand für mechanische Uhren mit Gongschlag. Zu aufwendig und dabei sinnfrei erschien die Funktion. Gerade deswegen kehrt sie nun zurück – als heiß begehrte Sammlerstücke.
Was hat sich der Duke von Regla bloß dabei gedacht?
Zu gern würde man den Mann befragen, der mit seinem Kauf vom 24. März 1910 über einen spanischen Mittelsmann Uhrengeschichte schrieb. Denn dieser mexikanische Herzog bestellte bei Patek Philippe in Genf die erste Taschenuhr der Welt, die den Glockenschlag der Westminster-Turmuhr am Londoner Parlament über fünf Tonfedern erklingen ließ. Na ja, fast. Denn so ganz gelang es den Uhrmachern damals dann noch nicht, den Sound der fünf Glocken des berühmten Uhrturms nachzubilden, von der die schwerste 13,5 Tonnen wiegt und dem Big Ben ihren Namen gab. Aber dazu später mehr. Sicher ist nur: Seither gilt der Klang dieser berühmten Tonfolge, die Georg Friedrich Händel zugeschrieben wird, als das absolute Nonplusultra für Uhrensammler.
Erfindung sogenannter Repetieruhren
Dabei basiert die Erfindung dieses Uhrentyps, bei dem Stunden, Viertelstunden und Minuten an kleine Tonfedern schlagen, auf sehr nützlichen Überlegungen: Außer Turmuhren gab es bis ins 17. Jahrhundert keinerlei Möglichkeiten, nachts die genaue Zeit zu erfahren. Jahrzehntelang lieferten sich die damals führenden Uhrmacher in England und Frankreich einen Wettstreit um die Erfindung sogenannter Repetieruhren. Dem Engländer Daniel Quare gelang es 1686 einen Viertelstunden-Mechanismus zu entwickeln. Und es sollten noch einmal fast 70 Jahre vergehen, bis es dem Engländer Thomas Mudge und zeitgleich deutschen Uhrmachern aus Friedberg um Mitte des 18. Jahrhunderts gelang, auch solche Werke herzustellen, die minutengenau die Zeit läuten lassen konnten. Als der berühmte französische Uhrmacher Abraham-Louis Breguet gegen Ende des 18. Jahrhunderts die kleinen eisernen Glöckchen im Inneren von Taschenuhren durch kreisförmig gebogene Tonfedern ersetzte, die mittels kleiner Hämmerchen geschlagen wurden, war die technische Entwicklung dieses Uhrentyps im Wesentlichen abgeschlossen. Heute unterscheidet man zwischen zwei Grundtypen, wobei Kombinationen aus beiden möglich sind: Bei der sogenannten Grande Sonnerie schlägt das Werk immer automatisch Stunden und Viertelstunden, bei der sogenannten Petite Sonnerie erklingt die Zeit nur auf Anforderung über einen Schieberegler. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts blieben Uhren mit Repetierfunktion extrem selten. Könige hatten sie am Hofe, es gab sogar Modelle für den Hofadel, die die Zeit lautlos an das Uhrengehäuse schlugen, um den Herrscher nicht bei Audienzen zu stören. Eine Art Vorstufe des Vibrationsalarms. Eine Minutenrepetition beim Hofhalten muss damals etwa so viel hergemacht haben wie heute eine Boeing 747 beim Staatsbesuch. Die machte Eindruck. Für Papst Pius IX. reichte es 1867 jedenfalls nur für ein Halbstunden-Repetierwerk.
Mechanische Armbanduhren mit Schlagwerk
Wer jetzt noch nicht glauben mag, dass sich erwachsene Menschen heute gern mechanische Uhren umschnallen, die ihnen trotz Smartphone die Stunden und Minuten als Ding-Dong schlagen und dafür bereit sind, ein Vermögen auszugeben, hätte sich nur auf den traditionellen Uhrenmessen im Frühjahr in Genf und Basel umsehen müssen: Noch nie wurden so viele neue Uhren mit dieser Funktion vorgestellt. Gleich mehrere Rekorde wurden innerhalb eines Jahres gebrochen, wofür Uhrmacher zuvor Jahrzehnte gebraucht hätten. Eine davon ist die nur 6,85 Millimeter dünne Octo Finissimo Répétition Minute von Bulgari, die flachste Uhr der Welt dieser Bauart. Ebenfalls zu sehen ist ein besonderes Modell vom Erfinder mechanischer Armbanduhren mit einem Schlagwerk, Audemars Piguet: Man baute bereits 1892 eine solche Uhr für Louis Brandt & Frère und stellte im Frühjahr nach rund acht Jahren Entwicklungszeit die Royal Oak Concept Supersonnerie vor. Die derzeit lauteste Minutenrepetition der Welt verfügt über einen Resonanzboden ähnlich dem Korpus einer Gitarre und löst damit das größte Problem dieses Mechanismus für Armbanduhren: Sie sind am Handgelenk kaum hörbar, man muss sie ans Ohr halten. Wer abends an der Hotelbar einen Geschäftskollegen mithören lassen will, wo der Hammer hängt, hat also ein Problem. „Hätte“, wird Chopard-Chef Karl-Friedrich Scheufele seit November darauf antworten, denn der clevere Schwabe entwickelte fünf Jahre lang das Repetierwerk der Full Strike genannten Uhr, das nicht nur zwölfmal hintereinander abgespielt werden kann. Es ist auch die erste Uhr der Welt, bei der das Saphirglas wie ein Lautsprecher dreidimensional ausgeformt wurde und den Schall der Stahlhämmer in den Raum überträgt. Dabei verfügt dieses Modell über die normale Abmessung einer Armbanduhr. Das war für die Ingenieure von Audemars Piguet aus Les Brassus offensichtlich keine Option. Die Supersonnerie ist nicht nur mehr als doppelt so teuer wie die Chopard, sie ist auch 1,5 Millimeter im Durchmesser größer. Wie eine 359 000 Euro teure Uhr unter Wasser klingt, werden wohl nur ganz wenige Menschen jemals ausprobieren, jedenfalls wäre es mit der im Frühsommer in Florenz vorgestellten Radiomir 1940 Minute Repeater Carillon von Panerai möglich, 30 Meter tief unter Wasser die Gongmusik abzuspielen.
Die komplizierteste Taschenuhr der Welt
All das übertrumpfte die älteste noch in Betrieb befindliche Uhrenmanufaktur der Welt, Vacheron Constantin, bereits im letzten Spätsommer mit einem ganz besonderen Modell: Die auf rund zehn Millionen Euro Kaufpreis geschätzte, komplizierteste Taschenuhr der Welt, die Referenz 57260, an der drei Uhrmacher gut zehn Jahre lang arbeiteten, verfügt neben dem zu Beginn erwähnten Westminster-Schlagwerk über eine spezielle Nachtruhefunktion und einen Wecker, mit dem sich der mutmaßliche New Yorker Käufer erstmals mechanisch mit dem Sound der berühmten Turmuhr wecken lassen kann. Es ist übrigens nicht überliefert, ob sich der eingangs erwähnte Herzog jemals über die nicht ganz exakten Halbtonschritte seiner Taschenuhr beschwert hat. Die Scharte wetzte deren Erfinder, die Genfer Manufaktur Patek Philippe, übrigens gut 90 Jahre später zur Jahrtausendwende aus: Die exakte Tonfolge der berühmten Melodie wurde in der Star Caliber 2000 erstmals realisiert. So viel Detailversessenheit wundert Kenner nicht, denn bei all den neuen und erstaunlichen uhrmacherischen Rekorden der letzten Jahre sollten die Anstrengungen eines Mannes nicht übersehen werden, ohne den es die begehrten Uhren mit Repetitionsschlagwerken heute vielleicht nicht mehr geben würde: Philippe Stern. Es war der Vater des heutigen Firmenpräsidenten der berühmten Genfer Manufaktur, der zum 150. Firmenjubiläum 1989 das Comeback dieser besonders aufwendigen Uhrenkategorie sprichwörtlich einläutete. Damals beschloss er, mit der Calibre 89 nicht nur die komplizierteste Uhr der Welt zu bauen, sondern auch die Produktion dieses Uhrentyps in der laufenden Produktion wieder aufleben zu lassen und stellte die weltweit ersten Armbanduhren mit Minutenrepetition und automatischem Aufzug vor. Vorher mussten Besitzer diesen Mechanismus von Hand aufziehen. Unbestritten hat sich bis heute keine Firma verdienter um diesen Mechanismus gemacht, denn fast 20 Jahre hatte keine einzige Schweizer Uhrenfirma gewagt, eine Repetitionsuhr zu bauen. Die Patek-Ingenieure von damals berichten in ihren Aufzeichnungen davon, dass sie ins Schweizer Jura reisten, dem traditionellen Standort der alten Manufakturen, um den greisen Uhrmachern ihre Geheimnisse zu entlocken. Es gab schließlich keinerlei Aufzeichnungen mehr, wie solche Uhren zu klingen hatten oder wie man Tonfedern fertigte – außer den sehr wenigen noch funktionstüchtigen Modellen. Wie selten solche Uhren sind, verdeutlichen ein paar Zahlen: Patek Philippe baute 1916 die erste Repetitionsarmbanduhr für Damen. Das Modell läutete in Fünf-Minuten-Intervallen. Die erste Armband-Minutenrepetition für Herren wurde neun Jahre später verkauft, und zwar an den blinden amerikanischen Automobilingenieur Ralph Teetor. Bis in die 60er-Jahre wurden unbestätigten Berichten zufolge bei Patek keine 100 Armbanduhren mit Minutenrepetition hergestellt, einige davon für den Partner Tiffany in New York. Um 1960 erlosch die Nachfrage völlig. Die Firma beschloss, keine Werke mehr mit dieser Funktion zu bauen. Zwischen 1958 und 1989 sind bei den Genfern lediglich drei Uhren dieses Typs gebaut worden. Auch heute, mit modernsten Fertigungsmethoden, verlassen im Vergleich zu den insgesamt knapp 57 000 Uhren nur sehr wenige Uhrwerke dieses Typs die Genfer Manufaktur. Verständlich, dass sich Sammler darum reißen.
18 Sekunden lang ein König
Heute kann das Prunkstück des eingangs erwähnten Herzogs im Genfer Museum der Manufaktur bewundert werden. Und auch wenn der vielleicht nur einen auf dicke Hose machen wollte mit dem Wunsch nach dem Klang der damals wichtigsten Turmuhr der Welt (England war immerhin noch die bedeutendste Weltmacht), wurde sein Name erst durch diese Uhr unsterblich: Don Carlos Rincón Gallardo y Romero de Terreros, Marquis von Guadalupe, dritter Duke von Regla und Marquis von Villahermosa de Alfaro. So lautet er in voller Länge. Die 18 Sekunden, die das Lesen dieses Namens beinahe dauert, ist übrigens die maximale Zeitspanne, die eine Minutenrepetition von Patek Philippe zum Gongläuten der Uhrzeit von 12 Uhr 59 hat. Recht flott, wenn man bedenkt, dass Kunden teilweise fünf oder mehr Jahre lang auf der Warteliste für eine solche Uhr stehen, um sich 18 Sekunden lang wie ein König zu fühlen.