La Famiglia Cucinelli
Apollo. Überall Apollo. Besucht man Camilla und Carolina Cucinelli in ihren zwei Häusern auf einem Hügel in der italienischen Provinz Umbrien, wird man noch vor der Ankunft von Apollo begrüßt. Eine große Büste des in der griechischen und römischen Mythologie verehrten Gottes, der – viel beschäftigt – unter anderem für Licht, Musik, Poesie, Frühling und Heilkraft verantwortlich war – und vielleicht noch ist –, überblickt auf der Veranda des Anwesens stehend die Weinberge und Felder der Region. Wie so ziemlich alles in der 450-Seelen-Gemeinde Solomeo ist die Skulptur nicht nur ein bloßes Dekorationsobjekt, sondern ein poetisches Symbol für den speziellen Geist, der in dem mittelalterlichen Ort vorherrscht.
Apollo ist, natürlich, ein Geschenk des Vaters von Camilla und Carolina, des italienischen Modedesigners Brunello Cucinelli, der aus der Region stammt und hier vor über 30 Jahren in einem Schloss aus dem 14. Jahrhundert den Firmensitz des Unternehmens gründete. Seine Frau Federica stammt sogar gebürtig aus Solomeo. Zusammen haben sie die letzten Jahrzehnte damit verbracht, die alten Gebäude, engen Gassen und die umliegende Landschaft des Dorfes wiederherzustellen.
1989 zog Cucinelli mit seiner Familie in eine leer stehende Villa aus dem 17. Jahrhundert unweit des Ortskerns. Unter anderem schenkten er und seine Frau dem Dorf seither ein Theater, ein Amphitheater und einen Park. Auch die weitläu ge, lichtdurch utete Brunello-Cucinelli-Zentrale befindet sich immer noch vor Ort – seit dem Jahr 2000 erweitert und in einer ehemaligen Fabrik unterhalb des hügeligen Solomeo untergebracht. Sie bindet die Bewohner der Umgebung ein: Die Firma mit mehr als 1700 Mitarbeitern (und der Regel, dass nicht länger als bis 17.30 Uhr inklusive langer Mittagspause gearbeitet werden darf) beschäftigt über 4000 Subunternehmer, darunter viele regionale Familienbetriebe. Ein Teil der Gewinne des Unternehmens wird in eine lokale, gemeinnützige Stiftung eingebracht.
Der Gott Apollo grüßt jeden der ankommenden Gäste
„Die Idee meines Vaters“, erklärt Camilla, „ist die einer Siedlung, die einen Raum zum Denken gibt, sie ist ein Ort, an dem die Seele heilen kann, ein Platz, an dem man natürliche Schönheit ndet.“ Die Häuser der beiden Cucinelli-Töchter waren Teil der umfassenden Dorfrenovierung. Camilla Cucinellis Haus stammt aus dem Jahr 1890, ursprünglich war es ein kleines Hotel. Sie und ihr Ehemann Riccardo Stefanelli renovierten es so, dass es im Grundriss einem traditionellen, umbrischen Landhaus entspricht. Es ist atemberaubend in seiner Einfachheit: dunkle Holzbalken unter den Decken, weiß getünchte Wände und bodentiefe Fenster, die den Blick öffnen auf die Felder, Obstplantagen und Olivenhaine im Tal. Die Bücherstapel, über Boden und Regale im Raum verteilt, sind Teil der Bibliothek, die Camilla von ihren Eltern zur Hochzeit erhalten hat – eine Sammlung, die die wichtigsten Bände aus Philosophie, Kunst, Geschichte und Literatur umfasst. Der Vater selbst besitzt über 5000 Bücher.
Wenige Schritte entfernt lebt ihre Schwester Caro- lina, 28, mit ihrem Ehemann Alessio Piastrelli. Ihr Haus verfügt über eine weitläufige, moderne Küche, die in den luftigen, hellen Wohnraum integriert ist. „Ich liebe es, zu kochen und mich um Gäste zu kümmern. Wenn Freunde zu Besuch sind, verbringen wir die Abende meistens hier“, erzählt Carolina. „Diese Liebe zum Kochen habe ich von meiner Mutter geerbt. Von ihr habe ich auch gelernt, frische Zutaten auszuwählen, mit denen ich die Gerichte der Region zubereite.“
Camilla und Carolina, das merkt man nach einem kurzen Rundgang durch beide Wohngebäude, haben nicht nur die Philosophie, sondern auch die beneidenswert signi kante Ästhetik ihres Vaters verinnerlicht: einen bodenständigen Stil, der natürlich in ihrer Mode sichtbar wird. An diesem Tag im Spätherbst machen sie es sich in weit geschnittener, dezent-lässiger und doch edler Garderobe auf Camillas Couch bequem und sprechen voller Zuneigung und Liebe über den Einfluss, den ihr Vater auf sie und die Region hat. Es sind Geschichten über sonntägliche Familienessen (bei denen es verboten ist, über das Geschäft zu sprechen) und lange Spaziergänge. „Ich bin quasi in dem Gemüsegarten meiner Mutter aufgewachsen und habe als Kind viel Zeit drau- ßenverbracht“,sagt Camilla,die wie ihre Schwester im Unternehmen arbeitet. „Es ist ein großes Glück für mich, dass ich unseren Töchtern Vittoria und Penelope ein Leben bieten kann, in dem sie von so viel natürlicher Schönheit umgeben sind. Sie können einen Nachmittag damit verbringen, unter einem Baum zu sitzen und ein Buch zu lesen. Oder einen Sonnenuntergang bewundern. Es ist ein Traum hier.“
Zurück zu Apollo und seinen Kollegen. Die klassischen Marmorstatuen griechischer Götter und Philosophen sind in den Häusern und Gärten der Schwestern allgegenwärtig. Brunello Cucinelli hat mehrere dieser Werke bei einem jungen Künstler in Auftrag gegeben, der in Pietrasanta in der Toskana arbeitet – einem Ort, der für seinen Marmor und die traditionelle, der klassischen Antike verp ichteten Kunst bekannt ist.
„Die Vision ist die einer Siedlung, die Raum zu denken gibt, wo die Seele heilt.“
– Camilla Cucinelli
„Ich gehe mit meinen Töchtern oft im Park spazieren und erzähle ihnen die Geschichte hinter den Skulpturen“, sagt Camilla. „Auf diese Weise sorge ich dafür, dass die Tradition weiterlebt, um die sich alles im Leben meines Vaters dreht.“ Sogar Camilla Cucinellis Swimmingpool ist von Skulpturen von Sophokles, Eros und eben Apollo umgeben. Es ist fast so, als würden sie über die Bewohner von Solomeo wachen, als Hüter von Cucinellis Mission, die von seinen Töchtern nun in die Zukunft getragen wird.
„Es reicht nicht, das zu erhalten, was wir haben“, sagt Carolina. „Wir arbeiten sehr hart, um das, was uns gegeben wurde, für kommende Generationen schöner zu hinterlassen.“ Unternehmerisches Handeln nach ethischen Grundwerten ist die Mission dieser Familie.
Text von Jill Newman