Schluss mit der Schinderei
Matt am Matterhorn, labbrige Beine im Löt schental und Entspannungsbäder in den Thermen von Leukerbad – diese Kombination kannte ich nur zu gut von vorangegangenen Ausfahrten mit dem Mountainbike im Oberwallis. Hier, im Herzen der Schweiz, reichen die Bike-Trails bis auf über 3000 Meter. Zahlreiche Viertausender reihen sich aneinander wie Perlen auf einer Schnur. Eine Landschaft wie eine Postkarte.
Der Stempel, der einem Mountainbiker in dieser Szenerie allerdings aufgedrückt wird, bedeutet endlose Höhenmeter. Bergab grundsätzlich alles kein Problem, aber bergauf kann das zum scheinbar endlosen Martyrium werden. Zumindest für mich. An einem langen Bike-Tag bis in den Sonnenuntergang zu radeln, ließ mich meist genauso zerbröselt enden wie einen Appenzeller im Fonduetopf. Aber das war früher: vor der Ära der EMTBs.
E-Bikes für alpines Gelände
Im Sommer 2020 wächst in mir der elektrisierende Wunschtraum, mit surrender Motorunterstützung durch die faszinierende Berglandschaft der Schweiz zu strampeln. Aber die Sache hat einen Haken: Vollgefederte elektrische Enduro-Bikes mit entsprechendem Fahrwerk, ausreichend Akku- und Motorleistung, Carbonrahmen und Edelkomponenten sowie der nötigen Robustheit, um auf felsigem Alpenterrain zu bestehen, pendeln auf einem Preisniveau zwischen 8000 und 10.000 Euro. „Erst mal testen“, lautet meine Devise.
Zum Glück kenne ich Toni. Wir sind uns vor zehn Jahren am anderen Ende der Welt auf dem Villarrica Vulkan in Patagonien über den Weg gelaufen. Hier in Deutschland leben Toni und ich allerdings in komplett anderen Hemisphären. Er ist ein bayerisches Urgestein, ich ein Kind des Ruhrgebiets. Als ausgebildeter Zweiradmechaniker und studierter Maschinenbauingenieur hat Toni schon alte Lkw zu Event-Trucks umgebaut, innovative Skibindungen entwickelt oder Saunen aus ausrangierten Gondelkabinen für Münchner Vorgärten gebastelt. Aber Toni hat auch sehr frühzeitig das Potenzial von EBikes erkannt. In einer Hinterhofwerkstatt in Dachau schraubt und tüftelt er seit Jahren an elektrifizierten Drahteseln der Premiumklasse.
Mein Plan ist folgender: Ich muss ihn von den Reizen einer Velo-Woche im Herzen der Schweiz überzeugen. Das sollte mir dann ein hochwertiges EBike für die Dauer der Reise garantieren. „Vo Minga noch Zermatt mid am Auto? Des is jo weida ois zum Nordpol zu fahrn“, ist seine erste Reaktion am Telefon. Begeisterung klingt anders. Dabei habe ich die volle Komplexität meiner Akquise noch gar nicht kundgetan. Natürlich möchte ich die Tour nicht allein unternehmen, sondern mit meinen Freunden Kilian und Markus sowie Jörg, einem befreundeten Bergführer aus Zermatt. Mit mir und Toni summierte sich der E-Bike-Bedarf auf fünf. „Bischt du no ganz sauba? Und oan Kofferraum voll Champagner bring i dann aa no mit?“, blafft mich Toni nach dieser Offenbarung wie erwartet an.
Edle E-Bikes im Anflug
Aber er hat es sich anders überlegt, als sein Kommentar vermuten ließ. Wie verabredet rollt er etliche Wochen später mit seinem Volkswagen Multivan vor dem Hotel Alex in Leukerbad ein. Auf seinem riesigen Bike-Heckträger und im Bulli-Innenraum glitzern fünf E-Bikes des spanischen Premiumherstellers Orbea in der goldenen Abendsonne. „Die Speerspitze der E-Bike-Technologie steht hier vor euch“, referiert Toni am nächsten Morgen in bestem Hochdeutsch und präsentiert stolz die edlen E-Bikes, die er uns mitgebracht hat.
Wettermäßig haben wir uns die Top-Woche schlechthin ausgesucht. Sonne pur und ein astralblauer Himmel. Kurzarmshirts und Shorts reichen als Bike-Outfits völlig aus, so angenehm lau ist die Luft. Allerdings gehören hier im Hochgebirge – neben Pannenhilfe-Werkzeug, Luftpumpe, Ersatzschlauch und Verpflegung – immer auch Regenzeug, warme Überziehjacke und Wechselunterwäsche in die Rucksäcke.
Wir drücken den On-Button an unseren E-Bike-Bordcomputern und rollen los. Als Auftakttour haben wir uns den sogenannten Torrenttrail in Leukerbad ausgesucht. Wir schonen unsere Akkus, indem wir mit der Gondel auf die gleichnamige Torrent auf 2350 Meter Höhe fahren. Oben erwarten uns Höhentrails, die sich schier endlos über der Baumgrenze auf Bergrücken und Hochalmen entlangziehen. Immer wieder wandert mein Blick über das obere Rhonetal und die vergletscherten Viertausender, die aus dem Süden von Saas-Fee, Zermatt und Arolla zu uns herüberblinzeln.
Allerdings wird ein neugieriges Schwelgen in der grandiosen Landschaft sofort bestraft. Schotter und Steine sorgen schnell dafür, dass man den Abflug macht von seinem Luxus-Drahtesel. Was mich aber wirklich umhaut – und das offen gesagt schon nach den ersten Kilometern auf den EMTBs –, ist ihr Fahrverhalten auf felsigen, steilen oder wurzeldurchsetzten Passagen. Kilian vermutet, dass „der tiefe Schwerpunkt, den der eingebaute Motor mit sich bringt, für enorme Fahrstabilität sorgt und das Bike nahezu wie auf Schienen über schmale Höhenwege pflügen lässt“.
Schwierige Wege werden zu spielerischen Herausforderungen
Markus, der technisch wirklich ein extrem versierter Fahrer ist, steigt sowohl downhill als auch uphill gar nicht mehr von seinem elektrifizierten Gefährten ab. „Hindernisse bergauf und steile Zwischenanstiege mit verblockten Steinpassagen oder quer liegenden Wurzeln sind jetzt wie spielerische Herausforderungen, die dank des E-Motors plötzlich richtig Spaß machen“, freut er sich.
Es geht uns allen ähnlich. Es fühlt sich verdammt gut an, die Power der E-Bikes mit den eigenen Bike-Skills zu kombinieren. Hier im hochalpinen Gelände spielen unsere Hightech-Velos ihre Stärken voll aus. So viel Uphill-Fahrspaß hatte ich in den Alpen bisher nie. Am Ende dieses ersten Tages steht eine Fahrleistung von 42,9 Kilometern auf dem Tacho, bei über sechs Stunden Fahrzeit sowie Anstiegen von insgesamt 2967 Metern und Abfahrten von 2290 Metern. Es ist wie so oft im Leben: Für mehr Geld bekommt man auch mehr. In unserem Fall mehr Höhenmeter, längere Fahrstrecken und viel mehr Bike-Spaß.
Wir lassen den Tag mit einem Blubberbad im mineralhaltigen Thermalwasser des Leukerbader Burgerbads ausklingen und genießen dann im Waldhaus noch ein üppiges, speziell auf Biker zugeschnittenes Vier-Gänge-Menü. Dass wir E-Biker sind, verschweigen wir galant, möglicherweise wären dann die Portionen kleiner ausgefallen ...
Bissl Watt sparen
Unser nächster Bike-Tag führt uns zuerst Richtung Norden. Zum Überwinden der ersten happigen Höhenmeter nutzen wir die Gondel auf die 2345 Meter hohe Gemmi. Die spektakuläre Bahn hat nur eine einzige Stütze und schwebt steil entlang einer fast senkrechten Felswand zur Bergstation – eine beeindruckende technische Leistung. Mit dem Bike ist hier keine Abfahrt möglich, aber wir wollen auf der an deren Seite runter.
So pedalieren wir über den traditionellen Gemmipass und passieren vom Wallis kommend die Kantonsgrenze ins Berner Oberland. Ein langer Downhill mit diversen Steilkurven, Schanzen und North-Shore-Elementen führt bis ins 1174 Meter tief gelegene Kandersteg. Wir sind körperlich fertig und verschwitzt von den vielen diffizilen technischen Elementen, die der künstlich angelegte und perfekt präparierte Trail parat hat. Dabei sind wir noch nicht mal die Hälfte der Hindernisse gefahren. Tatsächlich bestehen die E-Bikes und deren Dämpfer auch diese Herausforderungen.
In bester Rentnermanier fahren wir danach Eisenbahn. Zurück ins Wallis führt der Weg nur durch den Lötschbergtunnel. An der Auffahrt zur Autoverladung stauen sich die Pkw mit Italienurlaubern über mehr als eineinhalb Kilometer. Wir rollen einfach an der Schlange vorbei und bekommen mit unseren Bikes vom freundlichen SBB-Schaffner komfortable Sitzplätze direkt im Triebwagen zugewiesen. „Die perfekte Infrastruktur aus Zügen und Bussen hier bei uns in der Schweiz ist ideal, um mit dem E-Bike noch mehr Strecke zu machen“, sagt Jörg.
Auch wir kommen immer mehr zu der Erkenntnis, dass Seilbahnen, Züge und E-Bikes sich nicht ausschließen. Im Gegenteil, auf die Art kann man noch längere Gesamtdistanzen zurücklegen. Trotzdem beginnt nach dem Licht am Ende des Tunnels die Schinderei. Wir müssen eine lange Bergauf-Passage von fast 1400 Höhenmetern aus dem Lötschental hoch auf den Restipass bewältigen, um danach auf Höhenwegen wieder zurück an unseren Ausgangspunkt traversieren zu können.
Zuvor ist eine Entscheidung fällig. „Mehr rein treten schont den Akku“, meint Kilian. Diese simple E-Bike Weisheit haben wir alle schnell verinnerlicht. Verdoppelt der Motor etwa die Pedalkraft nur noch, statt sie zu vervierfachen, steigert das die Reichweite des Fahrrads enorm. Da wir noch einiges an Fahrstrecke vor uns haben, entscheiden wir uns gemeinsam für den Eco-Modus und mühen uns den langen Anstieg hoch. Zwar rinnen mir die Schweißperlen über die Stirn, aber die konstante Ladestandsanzeige des Akkus überzeugt mich schnell davon, dass dies der richtige Antriebsmodus für diese Passage ist.
Trotzdem haben wir diesmal den Akku am Tagesende so leer gefahren, dass wir die letzten Kilometer zum Hotel antriebslos unterwegs sind. Das ist anstrengend bei über 23 Kilogramm schweren E-Bikes. Aber auch das funktioniert zur Not, und zum Glück geht es bergab.
Heute stehen eine Streckenlänge von 77,5 Kilometern und eine Fahrleistung von über neun Stunden auf der Tachoanzeige. Sowohl im Anstieg als auch in der Abfahrt haben wir jeweils 3143 Meter bewältigt. Wir spüren unsere Oberschenkel und Sitzmuskeln. Nach selbst gegrillten Balkon-Currywürsten und einigen Sixpacks Bier fallen wir todmüde in die Betten.
Gipfel des Genusses
Mittlerweile sind wir richtig süchtig nach dem kleinen Kick Strom. Trotzdem lassen wir es am nächsten Morgen etwas ruhiger angehen, mit einer kleinen Tour Richtung Jeizinen. Am Folgetag steht wieder eine größere Runde Richtung Crans-Montana auf dem Programm, bevor wir am nächsten Tag ins berühmte Zermatt aufbrechen.
Die Trails in Zermatt sind gigantisch, die Aussichten überwältigend. Über allem thront das markante, 4478 Meter hohe Matterhorn. Der Berg schlechthin, aber nur für Bergsteiger erklimmbar. Für uns Biker stehen an diesem Tag Sunnegga und Gornergrat auf dem Programm. Wir erreichen eine maximale Höhe von 3077 Metern und blicken auf gewaltige Gletscherströme und weiß verschneite Gipfel. Am zweiten Tag geht es hinauf auf Trockener Steg, Gornergrat und Hörnli. Dank Jörg, der seit 25 Jahren in Zermatt lebt, fahren wir nur die phänomenalsten Trails und verfahren uns nicht einmal.
Letzteres würde in dieser riesigen Bergwelt gewaltige Umwege, Zeit und Akkuverluste bedeuten. Unsere Ausbeute geht so weit, dass wir am Ende des Tages um 19.30 Uhr noch den letzten Zug der legendären Gornergratbahn nehmen und auf deren Schienen bis auf 3135 Meter hinaufzuckeln. Natürlich sind in Zermatt nicht nur die Gipfelankünfte höher, sondern auch die Bike-Abfahrten länger.
Die Strecke zieht sich, und die Sonne ist längst untergegangen, als wir wieder unten im Dorf einrollen. 66,4 Kilometer waren es heute, fast neun Stunden Fahrzeit. Trotzdem aber ist unsere Akkuanzeige noch halbvoll. Wie das sein kann? Von Zermatt aus führt einfach auf fast jeden hohen umliegenden Berg eine Seilbahn. Aber die laufen schließlich auch mit Strom – somit sind wir dem elektrischen Antrieb treu geblieben.