Gorden Wagener: „Ich brauche den Wettbewerb“
Oft sehe ich den kleinen Jungen aus dem Ruhrpott vor meinem geistigen Auge, wie er mit leuchtenden Augen und einer Plastikschaufel in der Hand aus Sand irgendwas formt. Wie er in seinem Zimmer mal Abstruses, mal Abstraktes auf Papier malt. Und wie er, Jahre später, Surfbretter entwirft, baut und im Stile eines Jackson Pollock chaotisch mit Farbe bespritzt.
Der kleine Junge aus Essen ist auch Jahrzehnte später noch sehr aktiv und tief in mir verwurzelt. Tag für Tag meldet er sich zu Wort. Will spielen, ausprobieren, verrückt sein. Völlig unverkrampft und frei. Und ich lass ihn sich gern austoben, kreativ sein, mich inspirieren. Der einzige Unterschied zu damals: Heute ist der kleine Junge Automobildesigner und Chief Design Officer bei der Daimler Group. Mit wesentlich mehr Verantwortung.
Man muss sich gegen Widerstände durchsetzen können
Das Beste an meinem Job: Ich kann und muss noch hin und wieder das verspielte Kind sein. Das Spaß haben darf an Autos, an den großartigen Dingen des Lebens, an Luxus, an schönen Menschen. Allerdings schweben über all dem auch entscheidende Fragen: Wie kreiert man die Zukunft? Wie sieht es aus, das Auto von morgen? Und woher bekommt man Inspiration?
Mindestens ebenso wichtig wie Inspiration von außen ist für mich der innere Drang, gewinnen zu wollen. Die Nummer eins zu sein. Gegen andere anzutreten, Extreme zu testen ist eine meiner Leidenschaften. Ich fahre gern Autorennen, mit Sportwagen wie dem GT Black Series auf meiner Lieblingsrennstrecke Laguna Seca. Bei mir hat sich diese Grundeinstellung, sich mit anderen messen zu wollen, schon als Kind entwickelt. Ich brauche diesen Wettbewerb, der mich antreibt. Dies ist letztlich auch eine Form von Inspiration.
Mein Mantra: Stay fresh!
Dieses Lebensgefühl hat man oder nicht. Und zwar 24/7. Man legt es nach Feierabend nicht einfach ab. Es meldet sich an den verschiedensten Orten, zu den seltsamsten Zeiten. Gedankenblitze kommen mir oft unter der Dusche oder nachts im Bett. Inspirationen lauern überall. Man muss sie mit offenen Armen empfangen und sie sich entwickeln lassen.
Die Grundvoraussetzung dafür ist eine ausgeprägte Lust auf Leben und der Drang nach Freiheit. Sehr intensiv spüre ich dieses Gefühl beim Surfen – ich wollte mal Profi werden, bevor ich mich dann doch fürs Design entschieden habe. Surfen ist für mich die Mutter aller Sportarten. Allein auf dem Board zu sitzen, umgeben von Wellen und purer Energie.
Natur: Die elementarste Form der Inspiration
Es gibt in der Natur keine unnötigen Formen. Symmetrie ist allgegenwärtig. Die vielen Farben. Die Logik. In der Natur hat alles seinen Sinn. Das sind Prinzipien, die wir auch bei unserer Arbeit im Design Studio beachten. Wir wollen nichts machen, was überflüssig ist.
Ich verbringe auch deshalb viel Zeit in Kalifornien, weil dieses Natursetting aus Licht, Sonne, Meer und Wüste eine fast spirituelle Wirkung auf mich hat. Der positive Lebensstil der Kalifornier, gepaart mit der allgegenwärtigen Naturschönheit, stillt meinen Freiheitsdrang und inspiriert mich jeden Tag aufs Neue.
Wenn ich in der Sonne sitzend auf das Meer schaue, dann macht das etwas mit mir – das ist pure Bewegung im Stillstand. Wenn man mit offenen Augen durch die Welt geht, kann man in Kalifornien aus allem Inspiration ziehen. Aus Gesprächen mit Menschen im Straßencafé, aus eher banalen Dingen wie einer Palme. Oder einem Spaziergang durch Laguna Beach.
Design soll Emotionen erzeugen
Ich erlebe jedes Mal verschiedene Formen von Inspiration bei einer Autofahrt im GT Cabrio. Bevorzugt entlang der Pazifikküste auf meiner Lieblingsstrecke zwischen Newport Beach und Dana Point. Vor allem, wenn dabei richtig gute Musik aus den Boxen kommt.
Meine Autodesigns sollen im besten Fall bei den Menschen Emotionen erzeugen. Darum ist es wichtig, dass ich mich selbst auch von Emotionen leiten lasse. Ich mag progressive House Music. DJs wie Kerry John Poynter und Paul Oakenfold gehören zu meinen Favoriten. Musik zu kreieren hat etwas mit Ästhetik zu tun, darum fühle ich mich von Kompositionen inspiriert, die mich auf eine Gedankenreise entführen.
Ein Leben zwischen den Kontinenten
Natürlich gibt es auch in Deutschland viele Inspirationspunkte. Darum versuche ich, das Beste aus zwei Welten zu leben – der deutschen und der kalifornischen Kultur. Mercedes hat neben Sindelfingen und Südkalifornien auch Design Center an anderen schönen Orten wie Nizza, dem europäischen Kalifornien. Oder in China. Das Land ist wahnsinnig inspirierend.
Zwischendurch einfach mal den Standpunkt zu ändern, möglichst viel an Inspirationen aufzusaugen, ist wichtig für einen Kreativen. So verliere ich nicht den kritischen Blick.
Schönheit in allen Facetten
Was mich aber wirklich inspiriert, ist Schönheit. Besonders im Sinne eines menschlichen Schönheitsideals. Was finden wir als Menschen anziehend, schön, verführerisch?
Das transferiere ich ins Autodesign. Dabei muss man in der Lage sein zu variieren. Auch mal etwas wagen. Was Verrücktes machen. In Form übersetzt: Ein Auto muss Sex-Appeal haben. Das ist für mich die Prämisse. Ein zentraler Part unserer Mercedes-Strategie ist Schönheit.
Schönheit zu genießen heißt auch, Luxus zu genießen. Wir definieren als Autodesigner den Luxus von morgen. Man muss sich in dieser Welt des Extravaganten bewegen können. Mit Menschen sprechen. Herausfiltern, was Luxus für andere ausmacht. Ein Austausch mit Liebhabern von Luxusautos wie dem Designer Virgil Abloh oder mit Formel-1-Pilot Lewis Hamilton ist für mich wichtig. Sie haben einen interessanten Blick auf bestimmte Details.
Wohnen hat auch viel mit Inspiration zu tun. Mein Haus in Kalifornien ist eher im Contemporary-Santa-Barbara-Stil gehalten, das in Deutschland ist ein supermodernes Hightech-Home. Manchmal denke ich: Es ist noch futuristischer als unser Designgebäude von Mercedes – und das ist schon extrem futuristisch. Ich mag eben die Gegensätze.