Wenn Cowboys Rolls-Royce fahren
Wenn das erste eigene Automobil ein Sportwagen von 1978 ist, wird man beneidet. Bis man vom Schlüsselbruch an der geeisten Wagentür im Januar und der beklemmenden Hitze hinter Metallkarosserie im August erzählt. Scheiben kratzen, Fenster kurbeln, Rost entfernen. Zuweilen sind die Handflächen lädiert vom Kraftaufwand beim servolosen Lenken, die Nerven liegen blank nach der eintausendsten Fehlzündung. Fahren lernen im alten Sportwagen heißt, der moderne Limousinenfahrer sieht noch zu einem herab, während man nur Zentimeter über dem Straßenbelag dessen Schadstoffe einatmet.
Henry Royce prophezeit Elektroauto
Das ist nicht zwingend demütigend, sicher aber macht es demütig. Wer den Schlüssel dreht, muss glauben. Wer in die Kurve geht, muss hoffen. Der Fahrer als Romantiker. Und der Fahrer als Rowdy. Ein Tausendsassa auf dem Asphalt. Und dann steigt er in einen SUV mit Automatikschaltung – und alles ist elendslangweilig. Ein Rolls-Royce könnte dem Cowboy der Straße nicht ferner sein. Die perfektionierte Nobelkarosse ist schließlich ursprünglich gar nicht für den Selbstfahrer, sondern für den Chauffeur konstruiert worden. Eben ein Gefährt für Könige und Maharadschas. Kaum eine Automobilmarke rangiert höher als die Gründung von Charles Stewart Rolls und Frederick Henry Royce von 1904, die nur zwei Jahre später den Rolls-Royce Silver Ghost hervorgebracht hat - ein Fahrzeug, das rasch als das beste der Welt gerühmt wurde. Ein Monolith, der das Chaos überragt: der Rolls-Royce. Er kam, sah, und siegte.
Über 100 Jahre dauert der Erfolg der Marke an, inzwischen unter dem Dach der BMW Group. Seit jeher umgibt die Wagen von Rolls-Royce eine Aura von Triumphalismus und Unantastbarkeit. Das mag ein Gegenentwurf in Zeiten politischer Askese und Verunsicherung sein. Nachhaltigkeit und Reduktion waren niemals erste Assoziationen. Doch die modernen Antipathien werden mit der Vorstellung des Rolls-Royce Spectre nun auf die Probe gestellt. In einer Zeitschrift machte Pionier Rolls bereits im Jahr 1900 eine kühne Vorhersage: „Das Elektroauto ist vollkommen geräuschlos und sauber. Es gibt keinen Geruch oder Vibrationen. Sie dürften sehr nützlich sein, wenn feste Ladestationen eingerichtet werden können.“ Diese Worte, zu Papier gebracht vier Jahre vor der historischen Firmengründung, sollten sich als prophetisch erweisen. Im September 2021 bestätigte der britische Automobilbauer die Erprobung des ersten Modells in der Markengeschichte, das von Anfang an als Elektroauto konzipiert und konstruiert wurde. Nur ein Jahr später wird der Spectre der Welt vorgestellt. Inzwischen sind die ersten Exemplare ausgeliefert.
Im Innenraum herrscht dezenter Luxus
Der primitive Straßenrowdy ist zur Testfahrt an die südenglische Küste geladen. Da steht er also, etwas verdutzt, in Wahrheit eingeschüchtert vor diesem Koloss von Automobil, das fast drei Tonnen wiegt und stolze 5,45 Meter Länge misst. Auch die Wagentüren, eingelassene Tore, nach hinten angeschlagen, sind mit 1,50 Meter die längsten, die Rolls-Royce jemals gebaut hat. Muskelkraft braucht man für das Öffnen und Schließen der Türen allerdings nicht. Geht alles per Knopfdruck. Das erlaubt beim Ausstieg das Haltung bewahren. Ausladende Armbewegungen sind nicht nötig. Nicht nur der Komfort ist ungewohnt. Das Fahrzeug dient dem Fahrer, nicht der Fahrer dem Fahrzeug.
Der Luxus im Innenraum ist dezent, nicht schrill, er schreit nicht. Als beträte man einen Konzertsaal, wird alles erst einmal still. Der Spectre absorbiert das Böse des Draußen. Eingeschlossen wie in einem Kokon, liebevoll umhüllt, sorgsam eingewoben, kommt eine Demut auf, die der Cowboy nur anders kennt. In Zeiten permanenter Sichtbarkeit, Verfügbarkeit und Gläsernheit ist dieser eine Wert aus der Mode gekommen, der so essenziell ist: Die Privatheit, das Intime. Im Rolls-Royce wird der Cowboy zum Astronauten. Wie schwerelos. Die Krisen der Welt, und davon gibt es einige, prallen am Fahrzeug und damit auch am Fahrer ab. Das Beschützen lässt beim Fahren nicht nach, im Gegenteil.
Der Spectre fährt stabil in Kurven
Im Fahrwerk kommt das von Rolls-Royce entwickelte Planar-Federungssystem zum Einsatz. Diese Technik kann die Stabilisatoren eines jeden Rads entkoppeln und verhindert so ein Aufschaukeln, wenn ein Rad einseitig über unebenen Grund fährt. Erkennt das System eine bevorstehende Kurve, erfolgt ein Koppeln der Stabilisatoren und ein Versteifen der Dämpfer. Der Fahrstabilität in Kurven und dem Wendekreis beim Rangieren hilft zudem die Allradlenkung. Sofortiges Drehmoment, leiser Lauf und das Gefühl eines unmerklichen Gangs – der Auftakt in ein elektrisierendes Zeitalter ist damit gelungen.
So der Cowboy also durch südenglische Grafschaften fliegt, vorbei an Felsformationen und Meeresgischt, Tempo 100 nach 4,5 Sekunden und die Spitze von 250 km/h nicht herausfordert, fällt sein Blick auf die geflügelte Kühlerfigur. Der „Spirit of Ecstasy“, auch Emily genannt, nicht ins Zweidimensionale verbannt, sondern ikonographisch dreidimensional zum Anspruch erhoben, markiert die totalitäre Führung nach vorn. Mehr Speed, aber auch mehr Innovation, mehr Transformation, mehr Zukunft, mehr Wagemut. Elendslangweilig ist einem im Rolls-Royce Spectre nicht mehr. Es klickt.
LED-Sterne erleuchten die Autotüren
Auf manche Spielerei kann der Cowboy dennoch verzichten. War bisher nur der Sternenhimmel der Modelle Ghost und Phantom perfekt illuminiert, so sorgen im Spectre 4.796 leuchtende LED-Sternchen in den sogenannten Starlight Doors für das besonders astronomische Erlebnis. Mehr Sternenkörper umgeben allein das Spectre-Signet im Inneren. Und noch mehr nur noch das natürliche Himmelszelt, auf das der Testfahrer beim Stopp im zertifizierten Dunkelreservat South Downs National Park freien Blick hat. Dort läge er am liebsten auf der Motorhaube seines alten Sportwagens. Aber angekommen wäre dieses divenhaft unzuverlässige Fahrzeug dort wohl nie. Freiheit braucht Verlässlichkeit.
Umgeben von sanften Hügeln und steppenartigem Tiefland ruht der Testfahrer im vornehmen Pig Hotel, das royalem Landsitz gleicht. Noch vor Sonnenaufgang wird im Gemüsebeet des hauseigenen traditionellen Gewächshausrestaurants gewildert, bevor die Weiterfahrt in Richtung Heckfield Place beginnt. Im legendären gregorianischen Herrenhaus inmitten der 438 Hektar weiten Landschaft von Hampshire residieren für gewöhnlich ebenfalls Könige und Maharadschas. Das ist nur standesgemäß für den Rolls-Royce-Fahrer, obgleich er nun elektrisch fährt. Das ist der Marke auch wichtig. Wer Spectre fährt, fährt zuerst einen Rolls-Royce und dann erst ein Elektroauto. Der Triumphalismus ist ungebrochen.
Wochen später schaltet der Cowboy im alten Sportwagen durch den Berliner Stadtverkehr. Ihm war vor kurzem eine Erzählung des Österreichers Thomas Bernhard aus dem Jahr 1982 in die Hände gefallen. Darin schreibt er: „Und die Wahrheit ist, daß ich nur im Auto sitzend zwischen dem einen Ort, den ich gerade verlassen habe und dem andern, auf den ich zufahre, glücklich bin, nur im Auto und auf der Fahrt bin ich glücklich, ich bin der unglücklichste Ankommende, den man sich vorstellen kann, gleich, wo ich ankomme, komme ich an, bin ich unglücklich. Ich gehöre zu den Menschen, die im Grunde keinen Ort auf der Welt aushalten und die nur glücklich sind zwischen den Orten, von denen auf der Welt und auf die sie zufahren. Ich bin der glücklichste Reisende, sich Bewegende, Fahrende, Fortfahrende, ich bin der allerunglücklichste Ankommende.“ Wie heroisch, hatte der Cowboy erst gedacht, sich dann aber umentschieden: Wo er ankommt, erhoben, kühn und furchtlos, aus seinem Raumschiff auf die Bühne der Welt springt, da geht die Fahrt, da geht das Leben erst richtig los.