Ola Källenius über die elektrische G-Klasse und die Zukunft von Mercedes

In Schwedisch-Lappland wird der G580 aufs Härteste erprobt. Am Steuer sitzt Ola Källenius höchstpersönlich. Kann der CEO von Mercedes-Benz die Marke genauso souverän in die Zukunft steuern, wie er übers Eis driftet?
Text Ben Oliver
Als gebürtiger Schwede weiß Källenius, wie man sich für extreme Kälte kleidet. Und er kann mit einem Dreitonner sicher übers Eis driften.

Schmelzwasser tropft von den Reifen des Fahrzeugs auf den Betonboden der kahlen, kalten Werkstatt, in der Ola Källenius wartet. Der CEO der Mercedes-Benz Group ist soeben aus der neuen, elektrischen G-Klasse gestiegen. Jetzt inspizieren die Ingenieure den noch getarnten Prototyp auf einer Hebebühne. Bei unserem Besuch bei Källenius steht das Modell noch kurz vor seiner Markteinführung – inzwischen kann man es bereits bestellen. Källenius nimmt sich eines der abgepackten Sandwiches, die auf dem Tisch liegen. Dann berichtet er den Ingenieuren, wie sicher er sich gerade bei seiner Testfahrt über einen zugefrorenen See im hohen Norden Schwedens fühlte. Er stammt selbst aus Schweden, lobt jetzt aber in fließendem Deutsch die Dynamik und Stabilität des Wagens und macht Small Talk mit seinen Angestellten. „Es gibt ein paar harte Dinge in meinem Job, genauso wie in der gesamten Automobilbranche“, sagt er später. „Aber Gespräche mit unseren Ingenieuren und Designern, die machen mir großen Spaß.“

Mercedes wird mit 55 Milliarden Euro bewertet

Elektrisch und klar im Luxussegment positioniert: Der G580 mit EQ-Technologie verkörpert die Vision, die Källenius für Mercedes hat.

Seinen Mitarbeitern begegnet er hier auf Augenhöhe, obwohl er die meisten rein physisch mit seinen 1,95 Meter Körpergröße deutlich überragt – und trotz seiner Rolle als Chef einer weltweit führenden Luxusmarke. 166.000 Menschen arbeiten unter Källenius bei der Mercedes-Benz Group, deren Marktwert mit rund 55 Milliarden Euro angegeben wird. Källenius hat im vergangenen Jahr 12,2 Millionen Euro verdient, und er führt ein Unternehmen, das auf den Erfinder des Automobils zurückgeht, dessen ikonisches Logo die Front von Fahrzeugen aller Art ziert – begonnen beim Papamobil des Vatikans bis hin zu Lewis Hamiltons Formel-1-Rennwagen und dem teuersten Auto, das jemals bei einer Auktion verkauft wurde. Als eine „vierrädrige Geldmaschine“ beschrieb die Analysefirma Bernstein vor Kurzem die Mercedes-Benz Group unter Källenius.

Dabei kann man Automarken wie Mercedes-Benz nicht so einfach mit anderen Luxusmarken vergleichen, etwa den Herstellern von Uhren, Mode, Accessoires oder Champagner. Die Objekte der Begierde, die Mercedes und seine Konkurrenten produzieren, sind hochkomplex. Sie werden unter Einsatz enormer Investitionen ständig weiterentwickelt und müssen sich immer wieder neu auf einem knallharten Markt beweisen. Autohersteller haben einen erheblichen Einfluss auf die Weltwirtschaft, sind deshalb Gegenstand hitziger politischer Debatten. Und mit der Umstellung vom Benzin- auf den Elektroantrieb rückt die Branche nun noch stärker ins geopolitische Fadenkreuz: Regierungen versuchen, Marktanteile für ihre heimische Autoindustrie zu sichern, erheben Zölle, riskieren damit globale Handelskriege.

Automobilbranche befindet sich im Wandel

Auf Augenhöhe: Källenius schätzt die Gespräche mit den Ingenieuren und Designern von Mercedes.

Die Branche erlebt momentan einen gigantischen Wandel und mit ihr Mercedes-Benz. „Wir erfinden das Produkt, das wir einst erfunden haben, ganz neu. Das wird eine Jahrhundert-Transformation“, sagt Ola Källenius. Wer ist der Mann, der Mercedes-Benz durch diese herausfordernde Zeit lenkt? Wie sieht sein Plan aus? Und welche neuen Autos können seine Kunden erwarten? Källenius hat in seinen bisher fünf Jahren als CEO (sein zweiter Fünfjahresvertrag läuft nun bis 2029) schon viele Interviews gegeben. Doch jetzt gewährt er Einblicke wie noch nie zuvor: Er hat Robb Report eingeladen, ein Wochenende mit ihm in Arjeplog zu verbringen – in jenem winzigen nordschwedischen Städtchen, dessen Bevölkerung sich alljährlich vervierfacht, wenn im Winter die Automobilindustrie hierherkommt, um neue, geheime Modelle auf den zugefrorenen Seen zu testen. 

Mercedes­-Benz hat ein privates Seestück gemietet, will sich so vor den Automobil­-Paparazzi schützen. Hier begleiten wir Källenius bei Social-Media­-Shootings, Meetings mit den Ingenieuren – und seinen Testfahrten in der elektrischen G­-Klasse. Wenn er andere, weit neuere elektrifizierte Autos fährt, müssen wir allerdings fernbleiben. Die Markteinführungen dieser Modelle liegen noch in weiter Ferne. Ihre Silhouetten lassen sich nur grob unter den blickdichten Abdeckungen erahnen. Ola Källenius gilt als hyperintelligent, rational, effizient. An den Tagen in Arjeplog erleben wir immer wieder, wie sich sein Verstand in streng logischen, nuancierten Ausprägungen zeigt. Seine blauen Augen schauen durchdringend. Sicher kein Blick, unter dem man sich wohlfühlen würde, säße man ihm am Konferenztisch gegenüber und wäre schlecht vorbereitet. Aber von jener übertriebenen Alpha­-Arroganz, die viele CEOs ausstrahlen, ist bei ihm nichts zu spüren.

Ola Källenius hat die Marke neu positioniert

Gut getarnt und doch unverkennbar: die neue, elektrifizierte G-Klasse bei Testfahrten am Polarkreis.

Er übernachtet zusammen mit seinen Mitarbeitern im wenig glamourösen Silverhatten­-Hotel, einer besseren Jugendherberge für das internationale Team von Testfahrern und Ingenieuren. Abends sitzt er gemeinsam mit den anderen beim Bier an einer langen Tafel. Eine Haltung, die wohl in seiner natürlichen nordischen Bescheidenheit wurzelt. „Ich denke, die Persönlichkeit bildet sich in jungen Jahren“, sagt er beim morgendlichen Kaffee. „Mein Handeln hat einen schwedischen Kern, und die meisten Schweden sind keine Menschen, die Türen eintreten. Ich betrachte es als Privileg, Mercedes zu führen, sehe mich als Verwalter, dessen Job es ist, den Stern irgendwann sicher und im besten Zustand weiterzugeben. Die Person ist nicht die Marke.“

Das mag stimmen. Aber wenn diese spezifische Person in fünf Jahren abtritt, wird die Marke definitiv woanders stehen, neu positioniert sein. Im Fall von Källenius lassen sich Marke und Person ohnehin nicht so klar trennen. Denn Mercedes­-Benz ist der erste und einzige Arbeitgeber des Schweden. 1993 stieg er, nach seinem Abschluss an der Stockholm School of Economics, ins Unternehmen ein. Er arbeitete zunächst als Finanzexperte, gründete in seiner Freizeit ein unternehmensinternes American-Football­-Team, bei dem er selbst als Kapitän der Offensive spielte. Källenius war dabei, als das Mercedes-Werk in Tuscaloosa, Alabama, entstand. 2003, mit nur 34 Jahren, übernahm er die Leitung des Supersportwagen-Projekts Mercedes­-Benz SLR McLaren, zwei Jahre später die Verantwortung für Mercedes AMG High Performance Powertrains, den firmeneigenen Formel­-1-Motorenhersteller.

Mercedes-CEO will stärker auf Luxus setzen

Der CEO von Mercedes-Benz behält bei der Testfahrt über gefrorenes Eis einen kühlen Kopf.

Nach einem Jahr als Vizepräsident und CEO von Mercedes­-Benz U.S. International in Tuscaloosa holte man ihn 2010 nach Deutschland zurück, ernannte ihn zum Vizepräsidenten und Geschäftsführer von AMG. Es folgten zwei Vorstandsposten, für Vertrieb und Marketing sowie Forschung und Entwicklung, bevor Källenius 2019 mit 50 Jahren an die Konzernspitze berufen wurde. Die elektrische G­-Klasse, die offiziell G580 mit EQ­-Technologie heißt und deren Startpreis bei knapp 143.000 Euro liegt, steht klar für die Vision des Mercedes­-CEO. Ola Källenius will die Modelle des Konzerns konsequent elektrifizieren, noch stärker auf Luxus drehen und dadurch die hochpreisigen Marktsegmente sichern. So viel zu seiner Mission.

Dabei sind manche seiner Entscheidungen durchaus umstritten: So hat Källenius das Lastwagengeschäft abgespalten, und er plant, Modelle wie die A­- und B­-Klasse aus dem Programm zu nehmen. Denn die werden zwar in hoher Stückzahl verkauft, erzielen aber unterm Strich zu kleine Margen. Und das Thema Flottenverbrauch spielt bei der Elektrifizierung keine Rolle mehr. Dass er es versteht, auch unter extremen Bedingungen einen kühlen Kopf zu bewahren, demonstriert Källenius dann auf dem Eis. Möglich, dass es ihm als Schweden von Natur aus leichter als anderen fällt, mit einem Auto sicher über zugefrorene Seen zu fahren. Aber er hat auch bei AMG, McLaren und der Formel-1-Sparte von Mercedes sein Fahrgeschick trainiert. Selbst wenn er mit 110 Stundenkilometern seitwärts driftet, kann er noch problemlos und ganz nebenbei Geschichten erzählen.

Benziner sollen bis 2030 relevant bleiben

Sein Fahrgeschick hat Ola Källenius bei AMG, McLaren und der Formel-1-Sparte von Mercedes trainiert.

Geschichten wie diese: Auf der Detroit Auto Show 2018 habe das Unternehmen die damals aktuelleste Version der G-Klasse vorgestellt. Unter den Gästen war auch Arnold Schwarzenegger, und der fragte Källenius’ Vorgänger Dieter Zetsche, ob denn schon eine Elektroversion geplant sei. „Zetsche sagte: ‚Ja, natürlich‘“, erinnert sich Källenius, damals Leiter der Forschungs- und Entwicklungs-Abteilung. „Einer meiner Kollegen stupste mich an und fragte: ‚Planen wir wirklich eine elektrische G-Klasse?‘ Meine Antwort: ‚Ich glaube, jetzt schon.‘“ Nachdem Källenius den Posten des CEO von Zetsche übernommen hatte, gab er zunächst das Ziel aus, alle Modelle möglichst bis 2030 zu elektrifizieren. 

Mittlerweile prognostiziert Mercedes, dass Benziner auch Ende der 2020er-Jahre noch die Hälfte des Absatzes ausmachen werden. Das Unternehmen frischt seine Benzinermodelle deshalb noch einmal auf, will sie so bis weit in die 2030er-Jahre relevant halten. Es sei ein Problem des Marktes, dass es mit der Elektrifizierung nun doch länger dauere, sagt Ola Källenius, kein Problem von Mercedes: „Die Early Adopter sind längst alle auf elektrisch umgestiegen. Jetzt müssen wir aber alle anderen Kunden überzeugen. Wir lehnen uns deshalb nicht zurück und sagen: ‚Na ja, Elektro wächst eben etwas langsamer.‘ Das wäre ein Fehler. Wenn wir Produkte auf den Markt bringen, die die Leute begeistern, kann das Interesse an Elektromobilität auch ganz schnell wieder steigen.“

Ola Källenius trifft andere Luxus-CEOs

Für die Neuausrichtung von Mercedes-Benz folgt Ola Källenius einem klaren Kurs.

Und womit sorgt Mercedes aktuell für Begeisterung? „Zum Beispiel mit Features, die einem echt den Atem rauben, wie jenem verrückten Hyperscreen in den EQS- und EQE-Modellen“, sagt Källenius. „Da schauen jetzt viele Leute auf Mercedes, die das vorher nicht gemacht haben.“ Die Kooperationen, die Mercedes bei der G-Klasse mit der Modemarke Moncler oder dem inzwischen verstorbenen Modedesigner Virgil Abloh einging, hätten ebenfalls Aufsehen erregt, erzählt der Schwede. Der Mercedes-Chef trifft sich auch mit CEO-Kollegen anderer Luxuslabel, etwa mit Bernard Arnault von LVMH und Jean-Frédéric Dufour von Rolex. Was genau da besprochen wird, will er aber nicht verraten. 

„Wir tauschen uns mit Leuten aus anderen Segmenten des Luxussektors aus. Wir wollen verstehen, wie dort gedacht wird.“ So habe er Brunello Cucinelli in Solomeo besucht. Der visionäre Modeunternehmer hat das umbrische Dorf bei Perugia aufwendig saniert und zum Zentrum seines Wirkens gemacht. „Solomeo gehört zu den schönsten Dörfern, die ich je gesehen habe. Von Cucinelli habe ich dort viel über Stoffe, Qualität und ‚stealth luxury‘ gelernt, also über jene Haltung, die eine Marke manchmal subtil zurücknimmt, anstatt sie auffällig zu betonen. Cucinelli ist ein Gentleman mit einem sehr klaren Verständnis davon, was Luxus in seinem Geschäft bedeutet. Ich habe die Gelegenheit auch genutzt, um seine Meinung zu einigen unser neuen, noch geheimen Fahrzeugdesigns einzuholen.“

Mercedes-Benz steht für Transformation

Wer die aktuellen EQ-Modelle betrachtet, kann kaum bezweifeln, dass Mercedes in vielerlei Hinsicht auf dem richtigen Pfad ist – und dass Elektrifizierung das Schlüsselwort des Individualverkehrs bleibt. Bis das noch mehr Kunden klar ist, wird wohl noch eine Weile vergehen. Manche benötigen eben Zeit, um sich in der neuen, elektrischen Automobilwelt wohlzufühlen. Doch Mercedes arbeitet entschlossen daran, das kommende Zeitalter der Mobilität zu prägen: „Wir erleben das transformativste Jahrzehnt seit Gründung unseres Unternehmens“, sagt Källenius. „Und das, obwohl Mercedes schon seit Beginn der Unternehmensgeschichte für Transformation steht. Die ersten Mercedes-Ingenieure haben ja den Wandel von der Pferdekutsche hin zum motorisierten Fahrzeug gestaltet. Auch ein radikaler Schritt. Wir haben hier also schon immer lieber durch die Windschutzscheibe geschaut – und nicht in den Rückspiegel.“