Ferrari Purosangue: SUV oder Supersportwagen?
Da steht er, gradlinig, scheinbar vollkommen symmetrisch. Wüsste man es nicht besser, könnte man meinen, der Fuji sei von Statikern aufgeschüttet worden, nur um zu zeigen, wie ein perfekter Berg auszusehen hat. Der erhabene Blick auf den Vulkan beim Anflug auf den Flughafen Tokio-Haneda gibt einen Vorgeschmack auf ein Land, das so ganz anders tickt als der Rest der Welt. In Japan wurden der Walkman, die Playstation, Godzilla, Super Mario und das professionelle Driften erfunden. Es ist das Land der Superschnellzüge, die immer pünktlich sind, und die Kulisse spektakulärer Großstädte, die eine aufregende Alternative zu unserer Moderne versprechen. Es ist aber auch das Land der zurückhaltenden Perfektion, in dem Traditionen nahezu religiös gepflegt werden. In diesen vermeintlichen Gegensätzen liegen die natürlichen Parallelen zu dem Grund, der mich hierhergebracht hat. Und der steht, nicht weniger majestätisch als der Fuji, silberglitzernd vor meinem Hotel: der Ferrari Purosangue.
Zwischen SUV und Supersportwagen
Der erste Eindruck: groß, ästhetisch, einzigartig, aber nicht gewollt. Die Haltung des ersten viertürigen Viersitzers in der Geschichte der Scuderia erinnert mich an die Muscle Cars von Matchbox, mit denen ich als Kind an den Stränden von Rimini gespielt habe: irgendwo zwischen großrädrigen SUVs und eleganten Supersportwagen. Das Heck ragt, unterstrichen von den 23-Zoll-Rädern (vorn sind es nur 22 Zoll), bullig empor. Die Proportionen sind großzügig und unerwartet, und doch transportiert das Design die Ferrari-typische DNA. Alles andere wäre auch Harakiri. In einer Autoschmiede, in der Handarbeit noch zum Produktionsprozess gehört und die einzigartige Geschichte den Kern des Markenmythos bildet, darf Neues nie losgelöst von der Historie entstehen. Dass den Italienern dieser Zusammenhang wohl bewusst ist, unterstreicht der Name des Daily Drivers: Purosangue. Es bedeutet Vollblut. Soll heißen, es handelt sich weder um einen Exoten noch um irgendein Experiment, sondern um ein vollwertiges Familienmitglied, ausgestattet mit 100 Prozent Ferrari-Genen.
Die machen sich dann auch mit brachialer Gewalt bemerkbar, als ich den V12-Mittelmotor starte. Mehr geht nicht. Ich bilde mir ein, jedes einzelne der 725 PS zu spüren, als ich in die kurvenreiche Welt der japanischen Alpen eintauche. Die heißen übrigens tatsächlich „Alpen“, verrät mir meine neue Lieblings-App Perplexity. Warum? Weil sie den europäischen Alpen mit ihren Fichten- und Zedernwäldern, den grasbewachsenen Hängen und den schroffen, grauen Felsen rein äußerlich zum Verwechseln ähneln. Schön, wenn die Dinge in dieser Welt manchmal auch einfach sind. Komplizierter wird es, als ich unweit des Suwa-Sees den weit über 1000 Jahre alten Shinto-Schrein Suwa-Taisha betrete. Der Shintoismus ist neben dem Buddhismus die vorherrschende Lehre in Japan, die sich aus regionalen Kulten und Glaubensvorstellungen zusammensetzt und in dem Gott so ziemlich alles sein kann.
Erster viertüriger Viersitzer von Ferrari
Ein geradezu religiösen Fankult erfährt auch Ferrari – schon immer. Unter dem Hashtag #ferrari finden sich fast 30 Millionen Posts und Reels. Ob die Gläubigen auch dem neuen Purosangue huldigen werden? Der erste viertürige Viersitzer aus Maranello ist schließlich allein deswegen ein natürlicher Außenseiter in der Ferrari-Familie und kommt so manchem Ferrarista einer Sünde gleich. Das Vollblut als schwarzes Schaf? Ich für meinen Teil mag ihn. Vor allem dieses Gefühl, als würde ich in eine andere Dimension übertreten, sobald ich einsteige. So viel Raum. Im Purosangue können vier Zwei-Meter-Männer von Tokio nach Osaka fahren und dabei ganz bequem die Beine ausstrecken. Die Rücksitze lassen sich umklappen, es gibt diverse Massage-Einstellungen und sogar eine Isofix-Halterung für Kindersitze im Fond.
Der Preis: 380.000 Euro. Die Wartezeit beträgt allerdings zwei Jahre. Mindestens. So scheint das Kalkül von Ferrari aufzugehen, mit ihrem Viertürer einen, nun ja, alltagstauglichen Familienwagen auf die Straße zu bringen. Ich verlasse die japanischen Alpen und kann schon bald das Meer schmecken. Der National Highway 134 führt unmittelbar an der Küstenlinie entlang und ist gesäumt von Boutique-Hotels, Restaurants und Surfshops. Hier entfaltet Japan ein geradezu mediterranes Flair. Allerdings erinnert auch das Verkehrsaufkommen an die Verhältnisse an der Amalfiküste. Im Stop and Go kommt der Purosangue selten über den zweiten Gang hinaus. Was auffällt: Niemand drängelt. Höflichkeit gehört in Japan zu den charakterprägenden Eigenschaften.
Ikonische Marken wachsen mit Bedacht
Auf den Bergstraßen Richtung Hokuto in den Südhängen der Alpen faszinieren nicht nur die wilden Lilien, die die Hügel gelb leuchten lassen, ich entdecke auch eine große braune Kugel aus Zedernästen. Sie hängt über dem Eingang eines alten Holzhauses und verrät: Hier wird Sake gebraut. Die Kugel ist eine Art natürlicher Gradmesser für die Reife des aktuellen Jahrgangs-Sake. Ist die Kugel grün, sind die Äste frisch und der Sake gerade erst angesetzt. Je brauner die Kugel, desto länger lagert der Reiswein und desto besser die Qualität. In der Shichiken-Brauerei wird seit 1750 einer der besten Sake Japans hergestellt. Das Geheimnis? Das besonders weiche Bergwasser der Alpen. Außerdem verwende man eine ganz bestimmte Reissorte, die man in der Region anbaue, erklärt man mir. Hinzu käme die Erfahrung, die bereits an die 13. Familiengeneration weiter gegeben wurde – ein gerade zu hoch geachtetes Erbe.
Was nicht bedeutet, dass man hier in Ehrfurcht vor der Geschichte erstarren würde. Vielmehr versucht Tsushima Kitahara, der junge CEO der Brauerei, das Beste aus Vergangenheit und Gegenwart zu vereinen. Sparkling Dry Sake ist eines der Ergebnisse. Serviert in Sektflaschen könnte es eisgekühlt das neue In-Getränk werden – gleichwohl alteingesessene Japaner darüber selbstredend die Nase rümpfen. „Frei ist nur, wer missfallen kann“, sagt Kitahara, als wir uns verabschieden. Ein Satz, der auch von Enzo Ferrari stammen könnte. Sake mit Bubbles. Ein Ferrari mit vier Türen. Was hätte Enzo Ferrari davon gehalten? Wahrscheinlich viel. Er war niemand, der je stehen blieb oder im Erfolg verharrte. Es musste immer weitergehen. Und vor allem schneller, aber mit Bedacht. Wahrhaft ikonische Marken brauchen Zeit zum Wachstum.
In Japan existieren Tradition und Moderne
In einer Zeit, in der einzigartige, gemeinschaftliche Erlebnisse die Statussymbole der Stunde sind, erscheint mir ein Ferrari, in dem mehr als zwei Personen Platz haben, als absolut zeitgemäß. Ich nehme mir vor, heute Abend meine erste Flasche Sparkling Sake zu bestellen. Ich fahre in Tokio ein, Endstation des Roadtrips. Die Strecke: an Dystopie kaum zu übertreffen. Links und rechts breitet sich die Keiyō Industrial Zone aus. Gigantische, rot-weiß karierte Gastanks ragen daraus empor, als hätten Riesen ihre Karnevals-Zylinder abgelegt. Dazwischen: unzählige Schornsteine, Rohre und Kräne. Die richtige Endzeitkulisse für Hochgeschwindigkeit: Ich drücke den rechten Fuß durch. Der Purosangue beschleunigt in 3,3 Sekunden von null auf hundert. Endorphine fluten mein limbisches System.
Als ich über die berühmte Rainbow Bridge in 60 Meter Höhe über dem Meeresspiegel fahre und anschließend vom frühabendlichen Chaos Tokios absorbiert werde, spüre ich ein Gefühl vollkommener Zufriedenheit. Obwohl ich zurück im Stop-and-Go-Modus angekommen bin und obwohl ich Japan nur im Zeitraffer kennenlernen durfte, konnte ich dessen Ruhe inhalieren und verstehe nun ein wenig mehr, warum Traditionen einer Gesellschaft eine würdige Balance verleihen. Und ich habe im wahrsten Sinne des Wortes erfahren, was es bedeutet, einen Mythos in die Moderne zu überführen, ohne dabei die Wurzeln abzuschlagen. Denn nach zwei Tagen im Purosangue neige ich dazu, Enzo Ferrari zuzustimmen: „Jeder träumt davon, einen Ferrari zu fahren!“ Zumindest sollte es jeder einmal im Leben getan haben. Am besten in Japan.