Weine aus der Wüste
Die Morgensonne steht schon hoch am Himmel. Eine sanfte Brise geht über die endlose Ebene um Yinchuan, die Hauptstadt von Ningxia. Langsam verziehen sich die letzten Nebelfetzen und geben so einen atemberaubenden Blick auf das zerklüftete Helan-Gebirge frei. Dutzende von Frauen in Jeans, leichten Pullovern und bunten Tüchern hocken vor Rebstöcken, schneiden gekonnt die dunklen, reifen Trauben, sammeln sie in grünen Plastikkisten. Es ist Ernte, die wichtigste Zeit des Jahres in dieser kleinen chinesischen Region am Tor zur Wüste Gobi. Wer die Reben heute bis zum Horizont aufgereiht wie Zinnsoldaten stehen sieht, kann sich kaum vorstellen, dass die Gegend noch vor 20 Jahren wie ein riesiger Sandkasten aussah, dass die Bauern, die hier lebten, ihr mit Mühe gerade mal das Lebensnotwendigste abringen konnten. „Als Kind habe ich Löcher in der Wüste gegraben. Ich habe dort mit meinen Freunden Verstecken gespielt“, erinnert sich die 45-jährige Ren Yanling.
In Ningxia sind 200 Weingüter ansässig
Die ambitionierte, energiegeladene Chefwinzerin kommt aus Yuquanying, einem Dorf in der Nähe des Weinguts Helan Mountain. Heute arbeitet sie dort für den französischen Konzern Pernod Ricard. „Schon als 15-Jährige habe ich heimlich vom Wein meiner Eltern probiert“, erzählt sie und lächelt. Ren Yanling ist scharfsinnig, selbstbewusst, hat einen durchdringenden Blick. Sie gehört zum aufstrebenden Zirkel talentierter Winzer, Eigentümer und Manager, die jetzt Chinas Weinrevolution anführen. Dank ihrer Schaffenskraft hat sich die ehemals karge Provinz zu einer ambitionierten Weinbaupionierregion entwickelt. Ningxia kultiviert heute mehr als 40.000 Hektar Rebfläche, ist Heimat von mehr als 200 Weingütern. Viele sind Boutique-Betriebe, die sich auf qualitativ hochwertige Abfüllungen spezialisieren, dabei im Durchschnitt weniger als 100.000 Flaschen pro Jahr produzieren.
Weine aus Ningxia gewinnen mittlerweile prestigeträchtige Preise. Sie werden in Spitzenrestaurants, Hotels und Geschäften in Westeuropa und Nordamerika verkauft. Dabei hat hier alles sehr bescheiden begonnen: Noch in den 1980er-Jahren war Wein aus Trauben in China weitgehend unbekannt. Dann beschloss die Regierung, den weitverbreiteten Konsum von Baijiu, einem traditionellen Schnaps, einem Wodka ähnlich, einzudämmen. Das für dessen Herstellung benötigte Getreide war knapp und wurde als Lebensmittel benötigt. Beamte begannen, Wein als Alternative anzupreisen. Und so reisten Techniker und Landwirte nach Europa und machten sich in der Ferne mit einem Produkt vertraut, das daheim noch niemand wirklich kannte.
Regierung forcierte den Weinbau
„Was zu der Zeit in China als Wein durchging, war in Wirklichkeit eine Mischung aus Traubensaft, Süßstoff und Alkohol“, erinnert sich Zhou Shuzhen. Die 61-Jährige war eine der ersten Winzerinnen der Region, arbeitet heute für mehrere Weingüter, darunter das preisgekrönte Kanaan. 1983 war sie zu einem für damalige Verhältnisse revolutionären Winzerkurs in der Stadt Changli eingeladen worden – gemeinsam mit acht weiteren Teilnehmern. „Mit lokalen Rebsorten haben wir dort einen trockenen Rotwein produziert, waren aber mit der Fermentation noch nicht so vertraut“, sagt Zhou Shuzhen. „Das Resultat war ein sehr herber, sonst geschmackloser Wein mit hohem Alkoholgehalt.“ Der Regierungsbeamte, der den Wein schließlich verkostete, habe deutliche Worte gefunden: ekelhaft, schmeckt wie Sojasauce!
Trotz dieser anfänglichen Rückschläge: Die Provinzregierung forcierte den Weinbau in Ningxia weiter – und zwar mit Nachdruck. Man gewann der Wüste fruchtbaren Boden ab, bewässerte ihn künstlich, pflanzte aus Europa importierte Bäume und Reben. Winzer erhielten günstige Pachtverträge, sie stellten ausländische Berater ein. Die Behörden schrieben internationale Wettbewerbe und Stipendien für Önologiestudenten aus. Ein erheblicher Aufwand, der sich auszahlte. 2007 beginnt dann der große Weinboom in Ningxia. Heute ist Wein neben Kohle das wichtigste Produkt der Region. „So etwas habe ich sonst noch nirgendwo gesehen. Die Geschwindigkeit, mit der sich die Dinge hier entwickelt haben, ist erstaunlich“, sagt der 42-jährige José Hernández González, ein spanischer Önologe, der selbst in Ningxia gearbeitet hat.
Der Fokus liegt auf Rotwein
Inzwischen hat China diverse Weinbauregionen, aber Ningxia gilt eindeutig als die beste. Dank ihrer Kombination aus sandigem und trockenem Terroir, großer Höhe, langer Sonnenscheindauer und geringer Niederschläge braucht es hier deutlich weniger Pestizide als anderswo. Rund 90 Prozent der in Ningxia produzierten Weine sind rot. Die beliebteste Sorte ist Cabernet Sauvignon, gefolgt von Merlot, Marselan, Malbec, Shiraz und Pinot Noir. Dazu kommen Chardonnay und Riesling bei den Weißweinen. Gewiss: Der Weinbau entwickelt sich hier noch, die meisten Rebstöcke sind keine 20 Jahre alt. Doch was den Weinen aus Ningxia bisher an Komplexität und Struktur fehlt, machen sie durch Fruchtigkeit, Frische und Mineralität wett.
Keine Überraschung also, dass unter den Winzern in Ningxia heute Goldgräberstimmung herrscht. Einige haben eilig ihre Claims abgesteckt, mit begrenzten Mitteln vorgefertigte Metallwürfel in die Landschaft gesetzt. Andere Weingüter gleichen grandiosen Anwesen im klassischen französischen Stil. Zu Letzteren gehört Changyu Moser XV, ein 70 Millionen Euro teures Märchenschloss, das von 66 Hektar weiten Weinbergen umgeben ist und ein Weinmuseum sowie ein Kino beherbergt Das Gut ist ein Joint Venture von Changyu, Chinas ältestem Weinproduzenten, und Chefwinzer Laurenz Maria Moser V., dem 67-jährigen Vertreter einer der bekanntesten Winzerfamilien Österreichs. „Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir hier mit der Zeit echte Weltklasseweine produzieren werden“, sagt Moser.
LVMH steigt in chinesischen Weinboom ein
Doch bei allen Chancen: Der Weinbau in Ningxia bringt auch besondere Herausforderungen mit sich. Die Kosten sind hoch, die Witterungsbedingungen widrig. Im Winter fallen die Temperaturen auf bis zu minus 27 Grad, die Reben müssen deshalb im Herbst ein- und im Frühjahr wieder ausgegraben werden. Ein ebenso aufwendiges wie riskantes Prozedere, bei dem jedes Jahr zwischen drei und fünf Prozent der Pflanzen absterben. Fast die gesamte Ausrüstung wird aus Europa importiert, von Traubensortier- und -pressmaschinen bis hin zu Abfüllanlagen, Fässern und Korken. Auch die Arbeitskräfte sind extrem teuer, vor allem während der Weinlese, wenn alle Güter zur gleichen Zeit Pflücker benötigen.
Mittel- und Oberklasseweine aus Ningxia kosten deshalb oft ab 50 Euro die Flasche, die Preise liegen damit über denen ihrer europäischen Pendants. „Ningxia-Wein ist gut, aber noch schwer zu vermarkten“, sagt der 44-jährige Sun Qiuxia, Leiter eines neuen Weinkellers in Yinchuan. „Europa hat Hunderte von Jahren gebraucht, um zu verstehen, wie man guten Wein produziert und vermarktet. Wir haben da noch viel zu lernen.“ Trotzdem – oder vielleicht deshalb? – steigen jetzt internationale Schwergewichte in den Weinboom von Ningxia ein. Da wären der französische LVMH-Konzern, Eigentümer von Moët & Chandon, und Midea, einer der größten chinesischen Elektrokonzerne. Copower, ein Ölunternehmen aus Hongkong, und Daysun, der thailändisch-chinesische Lebensmittelriese, engagieren sich ebenfalls.
China als Weinmarkt der Zukunft
Daysun-Präsident Chen Deqi betreibt inzwischen Ho-Lan Soul, Ningxias größtes Bio-Weingut. Der 67-Jährige will hier in den nächsten zehn Jahren noch 30 weitere Châteaus bauen. Er plant einen 6.700 Hektar großen Komplex mit künstlichen Seen, Ausstellungszentren, mehreren Hotels, einem Skigebiet und einem Abschnitt der Großen Mauer. Das nötige Selbstbewusstsein hat Chen, dessen Projekt stolze 758 Millionen Euro kosten soll, auf jeden Fall: „Die Bedingungen für den Weinanbau sind hier besser als in der Bordeaux-Region“, sagt er während eines Besuchs des hochmodernen, futuristisch mit lila Licht beleuchteten Weinkellers von Ho-Lan Soul. „Und China wird bald der größte Weinmarkt der Welt sein“, prognostiziert er.