Cosecha: Revolution im Weinglas

Bisher galt der Gran Reserva als Krone der Schöpfung für spanische Wein-Aficionados. Doch jetzt rebellieren Winzer – und verkaufen ihre Premiumweine bewusst unter dem Label einer einstigen Ramsch-Kategorie.
Text Mike DeSimone & Jeff Jenssen

Vier Jahrzehnte lang war die Welt des Weinanbaugebiets Ribera del Duero in Ordnung – und klar geregelt. Der regionale Regulierungsrat, Consejo Regulador, hatte eindeutige Vorschriften für die Produktion hochwertiger Weine in der Gegend etabliert: An der Spitze der Evolution stand der Gran Reserva. Ein edler Rotwein der Rebsorte Tempranillo. Mindestens fünf Jahre lang muss er reifen, davon zwei Jahre in Eichenfässern. Reservas, die Weine der zweiten Qualitätsstufe, lagern immerhin noch drei Jahre lang; bei Crianzas sind zwei Jahre vorgeschrieben. Für die Weine aller drei Kategorien gilt: Zur Fassreife sind zwingend Barriques mit einem Volumen von weniger als 330 Litern vorgeschrieben. Weine, die diesen Standards nicht gerecht werden (etwa weil sie nur wenige Monate lang oder in einem größeren Fass reifen), fallen automatisch in die Kategorie Cosecha – die unterste Qualitätsstufe.

Oben der Gran Reserva, unten der Cosecha

Die Weinhersteller Vicente Pliego, Marcos Yllera und Xavier Ausàs (v. l. n. r.) haben den starren Reglementierungen den Kampf angesagt.

Auf dem Papier sind die Verhältnisse in der Weinregion Ribera del Duero noch heute so hierarchisch geordnet wie eine mittelalterliche Ständeversammlung. Doch seit einigen Jahren proben kreative Winzer nun die Revolution. Konsequent nutzen sie den Spielraum, den die vergleichsweise wenig regulierte Kategorie Cosecha bietet, für ihre Experimente. Auf dem spanischen Markt, dessen Käufer sich stark an traditionellen Qualitätskategorien orientieren, begegnet man ihren Abfüllungen zwar noch mit Skepsis, international beeindrucken die spanischen Revolutionäre dagegen oft schon mit der außergewöhnlichen Komplexität ihrer Weine – und erzielen Spitzenpreise.

Der Schauplatz der Revolution, die Region Ribera del Duero, befindet sich auf einer Hochebene nördlich von Madrid. Mit ihren Höhenlagen (800 bis 1100 Meter über dem Meeresspiegel) und ihren fruchtbaren Böden bieten die Weinberge hier beste Bedingungen für önologische Spitzenprodukte. Die Tempranillo-Rebsorte, die auf den meisten Weinbergen der Gegend wächst, wird von den Einheimischen auch Tinto Fino („feiner Roter“) oder Tinta del País („Rote des Landes“) genannt. Lokalpatrioten glauben, dass sie sich hier im Lauf der Jahre weiterentwickelt und so den besonderen Umweltbedingungen von Ribera del Duero angepasst hat: Mit Tempranillo-Trauben aus anderen Gegenden sei sie also nicht mehr identisch.

Winzer rebellieren gegen Vorschriften

Die Rebstöcke eines Weinbergs in Ribera del Duero werden mit einer speziellen Maschine behandelt.

Die Vorschriften, die die Weinproduktion in Ribera del Duero heute regeln, gehen bis auf das Jahr 1982 zurück. Damals wurden sie zum Schutz der lokalen Winzer und ihrer Qualitätsstandards etabliert. Doch viele Weinbauern empfinden sie mittlerweile als ein zu enges, unbequemes Korsett – gegen das sie jetzt mit Leidenschaft aufbegehren. Der Hang zur Revolte liege ihnen einfach im Blut, sagen viele Spanier von sich selbst. Ihren rebellischen Charakterzug stellen sie in allen Lebensbereichen zur Schau: So hat Spanien eine der höchsten Scheidungsraten der Welt, hat auch als einer der ersten Staaten schon im Jahr 2005 die gleichgeschlechtliche Ehe legalisiert – obwohl die katholische Kirche bis heute das geistige Klima das Landes prägt. In einer Nation, in der sich sogar Veganer für den Stierkampf begeistern, schließen sich Gegensätze eben nicht aus.

Gefragt, warum sie sich nicht mehr an die alten Regeln halten wollen, demonstrieren die Winzer in Ribera del Duero deshalb ausgeprägten Widerstandsgeist: „Regeln sind für Kriminelle“, sagt Xavier Ausàs, Inhaber des Weinguts Ausàs Bodegas y Viñedos, und schlägt mit seiner rechten Faust donnernd auf die Tischplatte. „Ich lasse mir doch nicht von der Regierung vorschreiben, wie ich meinen Wein herzustellen habe.“ Die Vorschriften des Consejo Regulador seien ja durchaus dazu geeignet, unbedarfte Konsumenten vor Betrügern zu schützen, räumt er ein. Aber ihre strikten Reifestandards hielten Winzer eben auch davon ab, mit kreativem Instinkt echte Spitzenweine zu produzieren. Ausàs war 25 Jahre lang technischer Direktor beim spanischen Weingut Vega Sicilia, startete dann 2016 sein eigenes Projekt. Jetzt stellt er jedes Jahr etwa 35.000 Flaschen Ausàs Interpretación her.

Zeitenwende in Ribera del Duero

Die Architektur der Bodega Vivaltus setzt einen Kontrast zu den mittelalterlichen Burgen in der Region.

Seine Tempranillo-Trauben erntet er auf einem drei Hektar großen Grundstück in Nava de Roa, kleinere Mengen weiterer Früchte kauft er bei Bedarf von anderen Winzern. Auf dem Etikett seiner Flaschen steht dann nicht, wie man es bei einem Boutique-Winzer vielleicht erwarten würde, Reserva oder Gran Reserva – sondern Cosecha. Denn gegen die Gebote des Consejo Regulador verstößt Ausàs gleich mehrfach: „Wir lassen unsere Weine aus Prinzip nur für kürzere Zeit im Fass reifen“, erklärt er. „Sonst werden sie zu sirupartig, und die Aromen von frischen Früchten würden verloren gehen.“ Um ebendiese Aromen zu bewahren, setzt er bei der Reife auch bewusst auf größere Fässer mit einem Volumen von 500 Litern.

Der 2020er Ausàs Interpretación kostet rund 50 Euro pro Flasche – obwohl er lediglich 14 Monate lang gereift ist. Andere gut gemachte Cosechas aus Ribera del Duero liegen im Preis bei mehreren Hundert Euro. Mit den Cosechas können die Winzer ihre Expertise frei ausspielen, also flexibel auf Terroir oder Wetterbedingungen eingehen, daneben persönliche Noten setzen. „Ich weiß doch selbst am besten, welche Lagerzeit für meine Weine optimal ist“, sagt Marcos Yllera, dessen Familie zu den Eigentümern der Bodega Vivaltus bei Peñafiel gehört. „Wenn ich einen Wein länger lagere, nur damit ich nachher Crianza oder Reserva aufs Etikett drucken kann, schadet das seinem Profil.“ Bodega Vivaltus liegt zwar idyllisch zwischen zwei mittelalterlichen Burgen, doch die markant-moderne Architektur des Hauptgebäudes steht sinnbildlich für die Zeitenwende in Ribera del Duero.

Reife in Edelstahltanks, Ton und Terrakotta

Durch die Lagerung in kleinen Barrique-Fässern (vorn) erhält der Wein starke Eichenaromen. Subtilere Aromen entstehen in den Foudres (hinten).

Die Trauben des ersten Jahrgangs wurden 2016 geerntet, im Handel kostet die Flasche heute rund 100 Euro. Als beratenden Winzer hat Vivaltus Jean-Claude Berrouet verpflichtet. Und Berrouet, der zuvor mehr als 40 Jahre lang bei dem renommierten Weingut Pétrus im Bordeaux gearbeitet hatte, hat diverse Innovationen eingebracht. Neben Eichenfässern kommen für die Reife nun auch Edelstahltanks, Ton- und Terrakotta-Amphoren zum Einsatz. Mit den Tanks und Amphoren reagierte Berrouet auf die gestiegenen Durchschnittstemperaturen in der Region, unter denen die Trauben heute – bedingt durch den Klimawandel – wachsen. „Wir ergänzen damit die Reife im Eichenfass, können so die Frische und Eleganz unserer Weine erhalten“, sagt Yllera. „Doch für Crianzas, Reservas und Gran Reservas sind diese Methoden nicht zugelassen. Also produzieren wir Cosechas.“

Die Eigentümerfamilie der Bodegas Emilio Moro hat schon mehr als 100 Jahre Erfahrung im Weinanbau, verkaufte ihre Trauben aber lange an andere Winzer. Seit 1989 bietet sie auch eigenen Wein an, darunter den Emilio Moro Clon de La Familia, ihr Premiumprodukt, das nur in herausragenden Jahren hergestellt wird. Der zu 100 Prozent aus Tempranillo-Trauben bestehende Rotwein reift 18 Monate lang in 500-Liter-Fässern aus französischer Eiche – was ihn zum Cosecha macht. „Der Wein ist optimal gereift, nur eben nicht nach den spezifischen Standards der Regierung“, sagt Nacho Andrés von Emilio Moro. „Und diese Standards stehen kaum für eine bessere Qualität. Sie machen keine Aussage über die Güte der Trauben. Stattdessen setzen sie nur eine Betonung auf die Lagerung in Eichenholz.“

Weinbau auf kleinen Parzellen

Vicente Pliego, Mitinhaber der Bodegas Pinea del Duero, produziert mit seinem Pinea einen Wein, dessen Trauben an mehr als 50-jährigen Rebstöcken auf einem einsamen Weinberg in besonderer Hochlage wachsen. Die Herstellung eines solchen Einzellagenweins bringt eine Vielzahl von Risiken mit sich, vor allem bei Klimabedingungen, die immer unberechenbarer werden. Pliego hat den Weinberg, La Encina genannt, vor sieben Jahren gekauft. Obwohl er den Pinea – zumindest bei manchen Lesen – lange genug für das Crianza- oder Reserva-Label lagern lässt, definiert er „den Wert des Weins lieber über die Qualität des Jahrgangs, nicht über den Reifeprozess oder die Lagerung“.

Auch die Familie García, die 1980 die Bodegas Mauro gründete, betreibt aus Überzeugung Weinbau auf kleinen Parzellen. Die Tempranillo-Trauben für ihren Garmón genannten Wein wachsen an 40- bis 80-jährigen Reben im Osten von Ribera del Duero. Nachdem der 2019er Garmón 20 Monate lang in Eichenfässern gereift war, hätte er sogar als Reserva auf den Markt kommen dürfen. Doch die Garcías entschieden sich aus Prinzip für die Cosecha-Kategorie. Das 1987 gegründete Weingut Pago de Carraovejas produziert – nur in sehr guten Jahren – den Cuesta de las Liebres. Eine Flasche des 2019er Jahrgangs kostet derzeit rund 200 Euro. Wie der Pinea ist der Cuesta de las Liebres ein Einzellagenwein, dessen Tempranillo-Trauben auf einem nach Südwesten ausgerichteten Hang bis spät in den Tag von der Sonne beschienen werden.

Bewertung nach Reifegraden ist überholt

„Wer Weine nur nach Reifezeiten bewertet, wird ihrer Vielschichtigkeit nicht gerecht“, sagt Pedro Ruiz Aragoneses von Pago de Carraovejas. Er weist auf die besondere Charakteristik des Weinbergs mit seinem sandigen Lehm- und Kalkboden hin: „Durch die Kombination dieser Eigenschaften entstehen hier in den besten Jahren Trauben von hervorragender Qualität.“ Und wie kommentieren die Offiziellen des Consejo Regulador von Ribera del Duero nun die Rebellion in den eigenen Reihen? Indem sie halb indigniert, halb resigniert abzuwiegeln versuchen: Die Kategorie Cosecha sei doch nie als Bezeichnung für minderwertige Weine gedacht gewesen, sondern von Beginn an als eine Möglichkeit, Weine mit mehr kreativer Freiheit zu produzieren. Insider halten das Argument für vorgeschoben; beim Consejo Regulador wolle man die Revolte wohl lieber kleinreden. So oder so: Der Geist ist aus der Flasche – und die alte, stark simplifizierte Bewertung von Weinen nach Reifegraden überholt. Wer wissen will, was die neuen, experimentellen Cosechas wirklich können, sollte also am besten ein paar davon kaufen – und sich so eine eigene Meinung bilden.