Oliver Rudin entwirft einzigartige Möbel
Empfängt Oliver Rudin Besuch, muss er sich zuerst die Hände waschen. Wie immer hat er bis zur letzten Sekunde gearbeitet. Er legt das dunkle Stück Holz aus der staubbedeckten Hand und geht zum Waschbecken. „Der Ast einer Schwarznuss“, sagt er, „eigentlich ein gutes Drechselholz, aber das Stück hier eignet sich schlecht, weil die Fasern wellenförmig verlaufen.“ Doch Schwierigkeiten haben Oliver Rudin noch nie abgeschreckt. Mit seiner schwieligen Hand fährt er über die beiden filigranen Beine, die er dem widerspenstigen Holz schon abgerungen hat. „Ich habe einen Dickschädel. Ich höre erst auf, wenn etwas gelingt. Und wenn ich dafür die ganze Nacht an der Werkbank verbringen muss.“ Ohne diese „Geht nicht gibt’s nicht“-Mentalität stünde der 30-Jährige heute nicht in seiner eigenen Werkstatt und könnte tun, was ihn glücklich macht: Möbel bauen. Möbel, die genauso schön wie funktional sind und ohne jeden Schnickschnack auskommen.
Der Beginn des Rudin Solution Design
Es ist kalt in der Werkstatt. Die Wintersonne scheint nur schwach durch die hohen Fenster und wirft lange Schatten auf den hölzernen Boden. Freunde und Familie hielten den Schweizer für verrückt, als er sich 2009 hier, in den Räumen eines ehemaligen Getränkehändlers, einmietete, um seine eigene Firma Rudin Solution Design zu gründen. „Ich war erst 22 Jahre alt und als gelernter Konstrukteur kein Handwerker“, erzählt er. Eine klare Vorstellung von der Zukunft hatte er nicht, natürlich auch keinen Businessplan. Dafür ein großes handwerkliches Talent, Mut und den unbändigen Willen, selbstständig zu arbeiten. „Ich lasse mir nicht gern reinreden.“ Während eines halbjährigen Praktikums, das Teil seiner Ausbildung gewesen war, hatte er in einer mechanischen Metallwerkstatt Bohren, Schweißen und Fräsen gelernt. In der Zeit kam er abends nicht nur müde, sondern auch körperlich erschöpft nach Hause, und das fühlte sich endlich richtig an. Und er hatte sein handwerkliches Geschick entdeckt. „Angefangen habe ich mit nichts als einem Hammer, einem Schraubendreher und dem bisschen Geld, das ich als Lehrling angespart hatte.“ Fremdes Kapital wollte er nicht annehmen. „Wer mitzahlt, will auch mitreden.“
Sein handwerkliches Geschick lässt sich sehen
Heute stehen die Entwürfe aus der kleinen Basler Werkstatt in Wohnungen von Kapstadt bis Peking. Der Möbelproduzent Rolf Benz stellt Oliver Rudins Entwurf des Beistelltischs Freistil 150 in Lizenz her und verkauft ihn weltweit. Die meisten Arbeiten von Rudin sind aber Einzelstücke, die er individuell und für die Bedürfnisse seiner Kunden entwickelt. Als One-Man-Show, vom Entwurf bis zur handwerklichen Umsetzung. Sein technisches Verständnis als Konstrukteur hilft ihm, den Rest hat er sich selbst beigebracht.
„Möbel sind etwas sehr Emotionales. Wir schlafen in Möbeln, wir essen an Möbeln, wir leben in Möbeln“, sagt Rudin und rückt die Schiebermütze zurecht, die auf seinem widerspenstigen Haar sitzt.
„Genau darum geht es mir. Mit meinen Möbeln möchte ich Emotionen schaffen.“ Der Kauf eines Möbels von der Stange sei immer ein Kompromiss. Mal stimme die Größe, mal das Material, mal die Farbe. So gut wie nie stimme alles. Bei einem maßgeschneiderten Fabrikat von Oliver Rudin setzen allein das Budget des Auftraggebers und die technische Umsetzbarkeit die Grenzen. Das Möbel passt sich den Bedürfnissen des Kunden an. Ein Hemdträger beispielsweise braucht eine andere Ankleideausstattung als ein T-Shirt-Träger. Rudin baut die Ankleide rund um die vorhandene Kleidung. Sodass sich der Besitzer nie mehr fragen muss, wie er seine Kleider wohl am schlausten verstaut. Die Ankleide ist „schlau“. Genauso passt sich das Sideboard der Musikanlage, der Platzierung ihrer Anschlüsse und der Größe der Plattensammlung an. Das Schuhregal der Ausprägung des Schuhticks. Maßarbeit ist aber nicht nur in privaten Räumen ein gewünschter Luxus. Auch Bürotische oder ganze Ladeneinrichtungen entwirft der 30-Jährige.
Rudins Geschäftsmodell: Mut
Lässt es die geografische Distanz zu, trifft Oliver Rudin seine Kunden persönlich. Bei der ersten Begegnung erntet er in der Regel überraschte Blicke. Viel jünger als seine 30 Jahre sieht er aus, und seine Aufmachung erinnert eher an einen politischen Aktivisten als an einen distinguierten Möbeldesigner. Er werde immer unterschätzt, meint Rudin lächelnd und fügt lakonisch an: „Ein hilfreicher Startbonus.“ Die Irritation weicht spätestens dann der Begeisterung, wenn er den Kunden seine Ideen präsentiert. Sieht der Basler den Raum, in dem das bestellte Möbel einmal stehen soll, weiß er sofort, wie es auszusehen hat. Ein intuitiver Prozess. Wie er seine Eingebung später technisch umsetzen soll, weiß er zu diesem Zeitpunkt noch nicht. „Meine Entwürfe entstehen beim Machen.“
Probleme löst er, wenn sie auftauchen. „Früher brauchte ich für dieses Vorgehen Mut, heute ist es mein Geschäftsmodell“, sagt Rudin lachend. Er spricht einen Dialekt, der Vokale lang dehnt und typisch ist für den Kanton Baselland. Oberdorf heißt die Gemeinde, in der er lebt und arbeitet. Sie liegt hübsch eingebettet im grünen und hügeligen Juragebiet im Norden der Schweiz.
Das maßgeschneiderte Einzelstück
Wie viel Freiheit ein Kunde dem Designer bei der Arbeit lässt, variiert und ist eine Frage des Vertrauens. „Manche Leute kommen zu mir und sagen: Mach etwas Schönes. That’s it. Den Rest überlassen sie mir.“ Aber es gibt natürlich auch Auftraggeber, die sehr konkrete Vorstellungen haben. Nicht immer einfach für einen Charakter wie Rudin, der sich nicht gern reinreden lässt.
„In den acht Jahren habe ich gelernt, professionell mit den Wünschen meiner Kunden umzugehen.“ Doch so wenig ein Kunde für ihn bloß ein Geldgeber ist, so selten schlüpft er in die Rolle des bloßen Umsetzers. „Ein Auftraggeber ermöglicht mir, etwas zu verwirklichen, das ich ohne ihn nie könnte. Doch nur weil ein Kunde etwas wünscht, ist es noch lange nicht richtig. Ich will, dass ihn sein Möbel lange glücklich macht.“
Funktionalität ist Oliver Rudins oberstes Gebot. Die Ästhetik muss ihr folgen. Oder wie er es ausdrückt: „Wenn etwas nicht funktioniert, ist es auch nicht schön.“ Aber natürlich spielt die Optik auch bei seinen Entwürfen eine zentrale Rolle.
Charakteristisch für sein Design ist das Zusammenspiel von Stahl, Holz und Leder. „Ich möchte die unterschiedlichen Eigenschaften der Materialien zu etwas Neuem, Harmonischem verbinden. Mein Design ist gut, wenn es eine Ruhe ausstrahlt, sich toll anfühlt – und funktioniert.“ Vier bis acht Wochen muss ein Kunde in der Regel warten, dann ist es da, das maßgeschneiderte Einzelstück.
Rudins Luxus: Ein Leben nach Maß
Oliver Rudins Geschäft läuft gut, seine Aufträge erhält er heute aus der ganzen Welt. Der Zeitgeist hilft ihm dabei. Als Gegenbewegung zur Wegwerfgesellschaft entdecken viele die Qualität guten Handwerks wieder. Die Vorstellung eines Möbels, das ein Leben lang hält, beruhigt in Zeiten permanenter Veränderungen. Ist Rudin Solution Design also eine perfekte Erfolgsstory? Der Schweizer lässt seinen Blick durch die Werkstatt schweifen und schüttelt den Kopf: „Das hier lohnt sich nicht. Klar, ich kann meine Familie ernähren. Doch wenn ich alle Stunden zusammenzähle, die ich hier arbeite, müsste ich längst eine Yacht besitzen.“ Dann zuckt er mit den Achseln: „Mein Antrieb ist aber nicht das Geld. Ich will etwas Schönes machen, das andere erfreut.“ Klingt abgedroschen, doch aus dem Mund dieses Mannes, der mit staubigen Kleidern, zerzaustem Haar und einer unprätentiösen Brille in seiner unbeheizten Werkstatt steht, glaubwürdig. Er ist einer, der gar nicht anders kann.
Ein Idealist ist Rudin nicht. Mehr ein beseelter Geschäftsmann, der auch ökologisch handeln will. „Kaufe ich Holz, bin ich mir bewusst, dass dafür ein Baum gefällt wurde. Der ist für immer weg, die Landschaft wurde verändert.“ Dieses Verantwortungsbewusstsein, Talent, Leidenschaft und eine gute Portion Sturheit stecken als DNA in seinen Entwürfen. Und Rudin leistet sich den größten Luxus, den er sich vorstellen kann: zu leben, wie er will. Ein Leben nach Maß.