Sahra Wagenknecht: „Jeder sollte einen Anreiz haben, sich anzustrengen“
Man soll ja, wenn man über Bücher spricht, nicht die Pointe verraten. Aber Ihrem Buch muss man vielleicht doch eine Warnung vorausschicken: Vorsicht, die Lektüre ist nichts für schreckhafte Leser! Manch einer könnte vor Staunen vom Hocker fallen.
Ich nehm’s als Kompliment. Danke schön.
Es wurden Rufe laut, Sie aus der Partei auszuschließen.
Dummköpfe gibt es in jeder Partei! Ich denke, wir reden hier vom klassischen Markenkern einer linken Politik. Aber genau davon haben sich viele linke Parteien, auch die SPD, weit entfernt. Nehmen Sie nur Gerhard Schröder und die Politik der Agenda 2010: Damit wurde den so genannten kleinen Leuten das Leben deutlich schwerer gemacht. Die Gefahr eines sozialen Absturzes ist heute für Viele ganz real. Es genügt, länger krank zu werden oder seinen Job zu verlieren. Diese Politik hat die soziale Ungleichheit und die Lebensunsicherheit enorm vergrößert.
Sie sprechen bislang nur von der SPD …
Nun ja, da zeigt sich die Fehlentwicklung am deutlichsten. Außerdem bin ich mit einem Mann verheiratet, der daraus Konsequenzen gezogen hat. Dadurch ist einst die Linke entstanden.
Oskar Lafontaine ist aus der SPD ausgetreten und zu den Linken gegangen. Aber gerade die sind es doch, die Sie sich besonders freudig vorknöpfen.
Auch Teile der Linken haben in den letzten Jahren die Bodenhaftung verloren. Links heißt für mich, sich für soziale Gerechtigkeit einzusetzen, für sozialen Ausgleich – allerdings immer unter der Voraussetzung eigener Leistung. Eine anzustrebende Gesellschaft ist für mich unbedingt eine Leistungsgesellschaft. Das heißt aber, dass die Perspektiven eines Menschen wirklich von eigener Leistung abhängen, und jeder, der sich anstrengt, auch die Chance auf ein Leben in Wohlstand hat. Leider sind wir davon meilenweit entfernt!
Das Statistische Bundesamt hat Zahlen veröffentlicht, denen zufolge reiche Eltern dreimal mehr Geld für ihre Kinder ausgeben als arme. Ist es das, was Sie meinen?
Damit fängt es an. Ein Kind aus armen Verhältnissen hat heute viel schlechtere Bildungsmöglichkeiten als eines aus reichen. Und sehen Sie, wie viele mies bezahlte Jobs es gibt: Da können die Leute jeden Tag schuften und kommen doch nie auf einen grünen Zweig. Vielfach betrifft das außerordentlich wichtige und verantwortungsvolle Tätigkeiten, denken Sie an die Pflegeberufe. Für mich ist es links, sich für echte Chancengleichheit und gute Löhne einzusetzen. Aber ganz sicher ist es nicht links, Menschen zu bevormunden und auf sie herabzusehen. Sie zu belehren, wie sie zu reden, zu denken und zu leben haben. Diese selbsternannten Tugendwächter haben das Label „links“ diskreditiert.
Holla, jetzt sind Sie aber sauer. Sind es die Lifestyle-Linken, gegen die sich Ihr Zorn richtet?
So nenne ich sie, ja. Das sind Leute, denen es persönlich sehr gut geht – wogegen ich nichts einzuwenden habe – die aber in missionarischem Eifer, ihr eigenes Lebensmodell anderen aufdrängen wollen. Wer immer noch mit seinem alten Diesel unterwegs ist oder gerne Nackensteaks grillt, wird von denen als Klima-Unhold geächtet.
Wo ist der moderne Linksliberalismus heute zu verorten?
Der Prototyp sind die heutigen Grünen. Die vertreten das in exemplarischer Form. Werden ja auch hauptsächlich von diesem Milieu gewählt. Aber es gibt auch in der SPD und in unserer Partei eine relevante Strömung, die in diese Richtung tendiert.
Donnerwetter! Sie haben keine Angst, sich Feinde zu machen …
Ich möchte nicht, dass die linken Parteien immer schwächer werden. Denn ich finde, wir brauchen eine bessere Regierung und eine andere Politik. Das wird ja auch im Untertitel meines Buches klar; es ist „Mein Gegenprogramm für Gemeinsinn und Zusammenhalt“.
Erst mal sorgen Sie für Distanz. Auch symbolisch: In Ihrem Buch gibt es kein Gendersternchen und kein angehängtes -Innen. Eine Feministin sind Sie demnach offenbar nicht.
Was hilft der Genderstern der alleinerziehenden Mutter, die keinen Ganztags-Kitaplatz findet oder den vielen Frauen, die schlechter bezahlt werden als ihre männlichen Kollegen? Wenn wir aber schon über Sprache sprechen und über die Neigung, andere mit übersensibler Besserwisserei zu überziehen: Ja, ich bin ein Anhänger des generischen Maskulinums …
… stimmt. Sonst hätten sie ja auch gesagt: eine große Anhängerin.
Ich finde die Sprachverzerrungen und -verfälschungen grässlich. Als Frau finde ich es außerdem diskriminierend, wenn ich etwa sage: Ich bin Ökonom, und dann Männer, meist sind es ja Männer, mich belehren, nein, ich sei eine Ökonomin. Der Begriff „Ökonom“ beschreibt eine Ausbildung, eine Kompetenz. Was macht es da für einen Unterschied, ob jemand weiblich oder männlich ist? Bitteschön: Wer gendern will, der soll es tun. Ist mir egal. Was mich ärgert, ist dieser missionarische Eifer und der wachsende Druck. Und teils kommt dabei eben nicht nur schlechtes, sondern auch richtig falsches Deutsch heraus. Wähler sind nicht „Wählende“, weil sie entweder schon gewählt haben oder es erst noch tun werden. Und der Satz „Die Studierenden feiern“ ist schlichter Nonsens. Denn in dem Moment, in dem sie feiern, sind sie Feiernde und gerade nicht Studierende. Aber sie sind und bleiben Studenten.
Die Achtsamkeit im Umgang mit Sprache verfolgt ja einen Zweck: Sie will sensibel machen für die subtilen Formen von Ausgrenzung und Unterdrückung. Dass sie manchmal kuriose Blüten treibt und viele sich daran stören, liegt wohl in der Natur der Sache: Sprache ist ein sehr persönliches Gut. Aber was stört Sie politisch an dieser Debatte?
Das Gewicht, das solchen Themen in der Öffentlichkeit zugeschrieben wird. Ich bin für gleiche Rechte. Unbedingt! Frauen, Männer, Homosexuelle, Menschen unterschiedlicher Abstammung – jeder Staatsbürger muss gleiche Rechte, vor allem aber auch gleiche Chancen haben. Wo das nicht der Fall ist, muss man dafür kämpfen. Aber das Feld dafür ist doch nicht die Sprache! Wir haben durchaus ernste Probleme. Deutschland war in den Zukunftstechnologien mal weltweit ganz vorn. Das sind wir auf vielen Feldern nicht mehr, und darin liegt eine Gefahr für unsere Zukunft. Wir haben auch große soziale Probleme. Dass viele Kinder in einem so reichen Land in Armut aufwachsen. Dass unzählige Rentner nach Jahrzehnten harter Arbeit ihren Ruhestand nicht genießen können, weil dafür die Rente einfach zu mager ist: Das ist tausendmal wichtiger als dieses Gendergestottere und die Bürger-Sternchen-Innen.
Sie unterstellen da einen Zusammenhang?
Die Debatte eignet sich jedenfalls hervorragend für Alibipolitik. Wer spricht denn von dem riesigen Niedriglohnsektor, in dem vor allem Frauen arbeiten? Warum verlangen so wenige mit dem gleichen Zorn, daran etwas zu ändern? Nein, für Politiker ist es schon äußerst komfortabel, wenn sie sich durch ein bisschen Identitätspolitik als fortschrittlich ausweisen können: kostet ja nix. Erinnern Sie sich an die Fußball-EM: Da ging es um die farbige Beleuchtung des Münchner Stadions. Ein großer Vorkämpfer der Schwulenbewegung war plötzlich Markus Söder. Selbst der Fleischkonzern Tönnies, der durch seine miserablen Arbeitsverhältnisse und die brutale Ausbeutung rumänischer Vertragsarbeiter immer wieder von sich reden macht, war in Regenbogenfarben illuminiert. Klar, Tönnies behandelt alle gleich, schwule Beschäftigte sind genauso rechtlos wie alle anderen.
Der Lifestyle kreist um seine eigenen Probleme, die Wirklichkeit bleibt außen vor?
Es ist eine Politik für Leute, die kein Rückgrat haben, um sich für die Lösung der wirklichen Probleme einzusetzen und da auch mit Widerständen fertig zu werden. Sogar Konzerne haben das für sich entdeckt: Audi gendert; inzwischen gibt es nur noch Audianer*innen. Und die Investmentgesellschaft Blackstone, eine Heuschrecke, ist ebenfalls ganz progressiv. Sie tun, was sie immer getan haben: kaufen marode Unternehmen auf, filetieren sie, verkaufen die Reste weiter – aber in den übernommenen Firmen darf in Zukunft nur noch jedes dritte Vorstandsmitglied ein weißer Mann sein. Sehr fortschrittlich. Ich glaube nur, den Belegschaften ist es im Zweifel egal, wer ihren Arbeitsplatz zerstört.
Ein Zitat aus Ihrem Buch: „Es hätte keine AfD und keinen Donald Trump gegeben, wenn ihre Gegner ihnen nicht den Boden bereitet hätten.“ Unterstellen Sie vielleicht sogar böse Absicht?
Eher Kurzsichtigkeit oder sogar Blindheit. Viele im politischen Betrieb in Berlin leben nur noch in ihrer Blase und haben den Bezug zur Lebensrealität normaler Menschen verloren. Das ist ein Problem. Es ist schon so: die rechten Parteien sind das Produkt einer Fehlentwicklung, für die jene Parteien verantwortlich sind, die ihre Wähler im Stich gelassen haben. Der Wunsch nach Sicherheit, Stabilität, einer vertrauten Lebensumgebung: Das ist nicht reaktionär – das sind urmenschliche Bedürfnisse, die man ernst nehmen muss. Auch Gemeinschaft, Zusammenhalt: Wer das verächtlich macht, der spielt der Rechten die Bälle zu.
Die Lifestyle-Linken verhindern, was sie zu erreichen suchen. Das hat die Dimension einer klassischen Tragödie. Sind sie die Spalter unserer Gesellschaft?
Es sind vor allem diejenigen, die Wirtschaftsliberalismus so verstehen, dass sie die Regeln und Schutzrechte für Arbeitnehmer in Frage stellen, den Mittelstand schwächen und den Sozialstaat abbauen. Denken Sie an das, was wir als Corona-Politik bezeichnen: Da hat man kleine Einzelhändler, Gastwirte oder Freiberufler am langen Arm verhungern lassen. Und gleichzeitig Milliarden locker gemacht, um große Unternehmen zu stützen. Wenn dann noch das Gefühl hinzukommt, von einer lifestyligen Elite verachtet zu werden: Das ist schon eine böse Mischung.
Aber als Ökonomin suchen Sie den Ausweg in einer geänderten Wirtschaftspolitik.
Richtig, denn wirksame Veränderung muss die Prioritäten im Auge haben. Wenn etwa Fridays for Future fordert, mit Blick auf den Klimawandel möglichst schnell alle Autos mit Verbrennungsmotoren zu verbieten, dann klingt das zwar radikal progressiv. Trotzdem scheint mir das ziemlich realitätsfremd. Wir haben aktuell in Deutschland über 40 Millionen Verbrenner auf der Straße und 300.000 E-Autos. Der Anteil erneuerbarer Energien am gesamten Energieverbrauch beträgt 19 Prozent. Wenn also bei deutlich gesteigertem Stromverbrauch immer noch 81 Prozent der Energie aus fossilen Energieträgern kommt, was haben wir dann mit der Verbannung der Verbrenner gewonnen? Nur endlose Schlangen an den Ladestationen, selbst wenn es zehn Mal so viele gäbe wie heute. Und mögliche Blackouts.
"Das Silicon Valley ist das Resultat immenser Förderung durch öffentliche Mittel – das Bild der kreativen Freaks in einer Garage ist ein Mythos.“
Der Markt soll es richten. Ist das linke Politik?
Nein, der Markt wird das allein nicht richten. Der Staat muss einen Rahmen schaffen, und er muss neue Technologien selbst massiv fördern.
Der Nationalstaat?
Der Staat ist das Instrument unserer Demokratie. Es gibt keine funktionierende Demokratie auf überstaatlicher Ebene, keine gemeinsame europäische Öffentlichkeit, eine weltweite schon gar nicht. Kaum ein Mensch kennt die Kommissare in Brüssel; was dort passiert, liegt weitgehend außerhalb der öffentlichen Wahrnehmung und Kontrolle. Und den Anspruch einer demokratischen Souveränität finde ich völlig berechtigt: Es gibt immer noch ein wesentlich größeres Wir-Gefühl innerhalb der einzelnen Länder als etwa innerhalb Europas oder gar global.
Haben andere das besser verstanden als wir Deutschen?
Das Silicon Valley ist nicht zufällig in den USA entstanden, sondern ist das Resultat immenser Förderung durch öffentliche Mittel. Die Ökonomin Mariana Mazzucato etwa weist nach, dass keine einzige Technologie im Smartphone ohne Gelder vom Staat entwickelt wurde – das Bild der kreativen Freaks in einer Garage ist ein Mythos. Pure Romantik. Auch die hoch gefeierte Firma Biontech bei uns ist hervorgegangen aus staatlich finanzierter Grundlagenforschung an einer Universität. Ganz abgesehen davon, dass auch die Impfstoffentwicklung mit öffentlichem Geld bezahlt wurde.
Also: Her mit dem mutigen Risikokapital!
Privates Kapital ist nicht mutig. Bei allzu großer Unsicherheit und sehr langen Horizonten bleibt es fern. Heute fließt Risikokapital oft in Projekte, die uns bei der Lösung unserer wichtigsten Zukunftsaufgaben ganz sicher nicht weiterbringen. Denken Sie an Lieferservice, Gorillas und dieses Zeug: Das sind Unternehmen, in denen miserabel bezahlte Billiglöhner die Waren in die gehobenen Altbauwohnungen schleppen. Bei vielen digitalen Projekten geht nur darum, Unternehmen am Markt zu platzieren, die dann andere verdrängen oder aufkaufen und so ein Monopol aufbauen. Amazon hat es vorgemacht.
Im Frühjahr, kurz bevor Ihr Buch erschien, saß Ihre Parteivorsitzende Susanne Hennig-Wellsow in der Talkshow von Markus Lanz und rechnete vor, wie nach ihren Vorstellungen eine Vermögensabgabe funktionieren sollte. Am Ende zuckte sie mit den Achseln: So mancher, der sein Häuschen am Stadtrand in langen Jahren abgestottert hatte, würde es wohl verkaufen müssen, um die Abgabe leisten zu können. Weil die Immobilienpreise so immens gestiegen sind. Halten Sie das für eine Politik, die den Gedanken an Leistung und das Gefühl sozialer Gerechtigkeit fördert?
Ich bin für eine Vermögenssteuer, aber mit hohen Freibeträgen. Wer ein zwei- oder dreistelliges Millionenvermögen hat, von Milliarden ganz zu schweigen, erzielt in der Regel so hohe Renditen, dass eine Vermögenssteuer von 2 oder 3 Prozent daraus spielend zu begleichen ist. Ein Selbständiger dagegen, der fürs Alter vorsorgt und sich deshalb ein Aktienpaket oder eine vermietete Eigentumswohnung zulegt, muss unbehelligt bleiben. Doch irgendjemand muss die hohen Corona-Schulden am Ende bezahlen. Ich möchte nicht, dass das die normalen Arbeitnehmer, kleine Selbständige oder die Besitzer von Reihenhäuschen sind.
Komisch: In Ihrem Buch steht etwas von 20 Millionen …
Klar, das ist ja auch mein Gegenprogramm.
Zur eigenen Partei?
Wir haben in Deutschland 119 Milliardäre. Und diese 119 Milliardäre sind allein in der Corona-Zeit noch mal um 100 Milliarden Euro reicher geworden. Da läuft etwas schief. Die halbe Wirtschaft wurde in Mitleidenschaft gezogen, viele haben Existenzängste – nur die Reichsten bekommen noch mal im Durchschnitt eine Milliarde hinzu. Das ist keine Leistungsgesellschaft. Und deshalb muss man handeln.