Hightech und Hanf: Ein Pariser Paar erfindet das Landleben neu
Als die Welt im Frühjahr 2020 nahezu abrupt zum Stillstand kam, begannen viele Stadtbewohner vom Nordkap bis Kapstadt mögliche Fluchtfantasien zu entwickeln. Einige stellten sich vor, aufs Land zu ziehen, um dort Ökobauern zu werden, andere hatten künstlerische Ambitionen, wieder andere hievten endlich ihre Start-up-Ideen in die Realität. Ein Paar aus Paris, Victoire de Pourtalès und Benjamin Eymère, träumte von einem Projekt, das diese drei Szenarien miteinander kombinieren sollte. Mittlerweile nimmt ihr kreativ-ökologischer Vergnügungspark mächtig Gestalt an. Oder wie Eymère sagt: „Wir verbinden Wissenschaft, Kunst und Natur in einem Forschungs- und Entwicklungslabor unter freiem Himmel.“ Aber was heißt das konkret?
Das Paar setzt auf Hanfanbau
Standort des Projekts ist das Château du Marais, ein fast 400 Hektar großes Anwesen südlich von Paris und seit Generationen im Besitz der Familie de Pourtalès – bis Victoire de Pourtalès und Benjamin Eymère kamen. Das Gebäude stammt aus der Zeit Ludwigs XVI. und ist – wie es sich gehört – von einem Wassergraben umgeben. Doch mehr noch als für das Schloss selbst interessierten sich die beiden für die umliegende Landschaft: Sie ist der Nährboden ihrer Idee.
Traditionell wächst auf den Feldern der Gegend Weizen, doch das Pariser Gründerpaar stellt derzeit auf Hanfanbau um und fuhr im vergangenen September bereits die erste Ernte ein. Hanf hat den großen Vorteil, dass er auch ohne Pestizide wunderbar wächst. Und er eignet sich als umweltfreundlicher Rohstoff zur Herstellung diverser Produkte – von Baumaterialien bis Kosmetik. Und dabei sind beinahe alle Bestandteile der Hanfpflanze nutzbar.
Gebaut wird mit nachhaltigen Baustoffen
Alte Freunde des Paares hat das neue, nach seinem Standort und seiner Postleitzahl 91.530 Le Marais genannte Projekt wohl wenig überrascht. Nicht, dass die beiden schon vorher als Landwirte aufgefallen wären: De Pourtalès war bis 2020 Direktorin der Pariser Galerie von David Zwirner. Eymère ist einer der Gründer der Sake-Marke Heavensake und CEO der internationalen Zeitschriftengruppe L’Officiel. Doch seine Wochenenden hat das Paar – gemeinsam mit den beiden Söhnen – schon früher regelmäßig außerhalb der Stadt verbracht.
Wenn es um ihre Projekte geht, denken de Pourtalès und Eymère ohnehin gerne groß. Die Open-Air-Arena, die in direkter Nachbarschaft zu ihren Hanffeldern entsteht, entwickelt deshalb auch Kulapat Yantrasast. Der Architekt ist mit Museums- und anderen Kulturbauten weltweit bekannt geworden. Für 91.530 Le Marais entwickelt er aus Holz und Greencrete, einer hanfbasierten Alternative zu klassischem Beton, sein Bauwerk.
Ein Ort für Künstler und Kreativschaffende
„Der Ort eignet sich wunderbar für Konzerte, Kunstausstellungen, Festivals, Bauernmärkte und vieles mehr“, sagt Yantrasast. Er war früher Schüler des als Betonspezialisten bekannten Architekten Tadao Andō – und ist von Hanf als grüner Betonalternative begeistert. „Beton bietet viele Vorteile, ist aber auch limitiert“, sagt Yantrasast. „Beton lässt sich nicht recyceln, Hanf dagegen schon. Außerdem ist Hanf poröser. Hanf kann deshalb Wärme halten und Schall viel besser absorbieren.“
Auf Château du Marais gibt es ein ganzjähriges Kunst- und Kulturprogramm. Für Victoire de Pourtalès ist das eine logische Fortschreibung der Geschichte des Schlosses. Schon im frühen 19. Jahrhundert war das Château ein Treffpunkt für Künstler und Schriftsteller. Heute, so de Pourtalès, haben wieder mehr französische Künstler den Wunsch, auf dem Land zu leben, sich von der Natur inspirieren zu lassen.
Digitalisierte Landwirtschaft
Auch in technischer Hinsicht will das Paar den landwirtschaftlichen Aspekt zeitgemäß interpretieren. Dafür digitalisieren sie viele Prozesse, messen Klimadaten und verwenden einen Dünger, der speziell für die Besonderheiten ihres Bodens entwickelt wurde. Statt ihre Ernte nur als Rohstoff zu verkaufen, engagieren sie sich selbst in der Herstellung hanfbasierter Produkte – neben dem Greencrete sind das unter anderem Textilien und Naturöle für Kosmetika.
Das Paar hat es sich im frisch renovierten Kutschenhaus des Anwesens heimelig gemacht. Sie haben ihr neues Zuhause mit zeitgenössischen Kunstwerken eingerichtet und ihre Söhne in der Dorfschule angemeldet. Von ihrem Garten aus können die beiden die Traktoren hören, die Pferde riechen und dunkle Unwetterwolken, falls mal welche bedrohlich über den Feldern aufziehen, mit eigenen Augen sehen. Das ist es also, das hybride Leben kreativer Großstädter.